Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
liefen dem Sarg mit seinem Großvater hinterher, vorbei an den gelb-braunen Kastanien und dem roten Ahorn. Paul wunderte sich, dass die Sargträger vom Hauptweg nach rechts abbogen und nicht nach links, wie es besprochen war. Sein Großvater hatte sich gewünscht, an der Begrenzungshecke zu liegen, nahe der Felder und Wiesen, nahe Paula Modersohn-Becker. Paul stieß seine Mutter an, danach seine Großmutter, doch beide bogen tränenüberströmt nach rechts ab. Am Grab verwies der Pastor darauf, dass Paul Kück und Johannes Paul I. an ein und demselben Tag verstorben waren. Als dann Paul junior an das Grab trat und eine Schaufel Erde auf den Großvater schütten sollte, holte seine Mutter eine Medaille hervor und warf sie in die Gruft.
»Die Medaille!«, schimpfte seine Großmutter später beim Essen im Hemberg, es gab Matjes mit Bratkartoffeln, »Weißt du überhaupt, Johanna, wer sie ihm umgehängt hat?«
Am Grab hatte man vom Papst gesprochen, jetzt im Hemberg war man plötzlich bei Hitler.
»Die hat ihm wirklich Hitler umgehängt?«, fragte einer der Trauergäste, »das gibt's doch nicht, der Hitler?«
»Ja, der! Welcher Hitler denn sonst?«, rief Pauls Großmutter.
»Das ist entsetzlich«, sagte Pauls jüngster Onkel, der aus der psychiatrischen Anstalt in Lübeck für die Beerdigung seines Vaters gekommen war.
»Vater freut sich, dass sie jetzt bei ihm ist! Wir müssen über das Ding nicht mehr reden!«, erklärte Pauls Mutter.
»Vater kann sich nicht mehr freuen! Er ist tot!«, korrigierte die Großmutter.
»Nach euren Begriffen ist er tot, aber nicht nach unseren!«, entgegnete Pauls Mutter, die immer noch überall ihre indischen Erkenntnisse verkündete.
Als gerade Bratkartoffeln nachgereicht wurden, kam der Pastor mit rotem Kopf, beugte sich zu den Angehörigen und erklärte, es täte ihm leid, man sei versehentlich dem Sarg des Kuhbauern Jan Kück gefolgt, die Sargträger seien durcheinandergekommen, weil hier ja alle Kück, Tietjen oder Gerken hießen.
Pauls Großmutter sprang auf, lief, so schnell sie konnte, den steilen Anstieg zur Kirche hoch und erreichte das Grab des Bauern Jan Kück. Dort befahl sie den Totengräbern, die gerade ihre Arbeit taten, unverzüglich die Goldmedaille von 1939 wieder auszubuddeln, die schließlich Er ihrem Mann umgehängt hatte und nicht irgendeinem Kuhbauern, andernfalls würde sie selbst danach graben.
Ein paar Tage später sah Paul seine Großmutter, wie sie in schwarzer Trauerbluse mit dem Wiener Kalk die Medaille polierte, danach ihren kalifornischen Rilketopf, Rilke selbst und sich. Ganz allein und verlassen saß sie am Ende zwischen den Skulpturen. Und es war Herbst geworden. Die Blätter fielen und trieben durch den Garten.
Auf dem Ateliertisch lagen noch die Modellierhölzer, die Pauls Großvater benutzt hatte, wenn die menschlichen Finger zu groß und zu plump waren, um die kleinsten Körperstellen zu bilden.
»Ich kann mir vorstellen, dass Gott diese Modellierhölzer auch verwendet hat«, hatte der Großvater gesagt, als er an den Gesichtszügen vom »großen Sozialdemokraten« arbeitete und mit der verkleinerten Hand die Augenlider und tiefen Falten um den Mund modellierte. Er sprach oft bei seiner Arbeit von Gott und erklärte, dass dieser auch zunächst alles so geformt habe wie er, um danach dem Ton seinen Atem einzuhauchen. Dann machte er, also der Großvater, eine Pause und lächelte.
Die Tonmenschen ließ er in Bronze gießen, Bronze liebte er: korrosionsbeständig, hart, aber gleitfähig, verschleißfest, hitze- und seewasserbeständig. »Der Mensch geht, die Bronze bleibt«, sagte er. Manchmal, selten, arbeitete er mit Marmor, da nahm er Meißel, Schlägel oder Hammer. Meistens zog er seine modellierten Tonmenschen auf dem Anhänger aus der alten Scheune, wenn sie getrocknet waren; er hüllte sie in Schaumstoff, legte sie in einen sargähnlichen Holzkasten und fuhr mit ihnen und seinem weißen Mercedes in die Gießerei ins Umland.
»Paul, wie setzt sich eine Bronzelegierung zusammen?«, fragte er, wenn der Enkel mitfahren durfte.
»Aus Zinn, Kupfer, Blei und ein bisschen Zink!«, antwortete Paul wie aus dem Effeff.
»Und warum sind meine Kunstwerke innen hohl?«, es war ja seine Lieblingsfrage.
»Damit die Seele und die Geheimnisse und die Stärken und Fehler der Menschen Platz haben!«, Paul hatte sich die richtige Antwort sogar irgendwann aufgeschrieben.
»Sehr gut«, lobte der Großvater und lenkte seine Tonmenschen über
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