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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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die Landstraße.
     
    Nullkück schob ein Metallgerüst von der Wand weg. Im Atelier standen viele dieser Gerüste. Es war immer einer der schwierigsten und wichtigsten Arbeitsschritte von Pauls Großvater gewesen, den feuchten, gut gekneteten Ton in eines der Metallgerüste zu modellieren, an dem er die spätere Stellung seiner Menschen, ihre Raumdurchdringung und Kopfhaltung schon vorgebildet hatte.
    Hinten in der Ecke, neben Eimern mit irgendeiner Spezialpaste, stand Helmut Schmidt. Einiges vom Ton war abgefallen, es lag am Fuße des Metallgerüsts. Der Rumpf war nur angedeutet: zwei verschränkte Arme, die eine Hand schien etwas zu halten, der Kopf geneigt. Falten von der Nase bis zu den Mundwinkeln mit Bitterkeit.
    Paul entdeckte den Behälter mit Wiener Kalk, damit hatte die Großmutter das schwarz angelaufene Silberbesteck gereinigt, die Medaille, den Topf, alles. Bimsmehl und Wiener Kalk hatte sie geliebt und damit ihre ganze Welt poliert.
    »Kann man das noch benutzen?«, fragte Paul und zog den schwarzen Metallreif aus der Hosentasche, den Nullkück beim großen Graben gefunden hatte. Er warf ihn in den Kalk und bearbeitete das Metall mit einem Lappen. »Ich glaube, du hast einen richtigen Silberarmreif gefunden!«
    Nullkück betrachtete das Stück. Er war ganz ehrfürchtig mit dem Armreif und gab ihn zurück.
    »Vielleicht ist der noch von den Germanen«, überlegte Paul und polierte weiter, bis er die alte Jalousie wegriss und durch das Fenster seine Großmutter im Garten betrachtete.
    Ihre Skulptur war mit Abstand die sauberste, die Bronze am wenigsten verwittert!
    »Sag mal, fällt dir das auch auf? Großmutter ist ja blitzblank, wie hochpoliert?«, fragte Paul erstaunt, Bismarck oder Rembrandt sahen dagegen richtig grün und moosbewachsen aus.
    »Spezialpaste«, sagte Nullkück und zeigte auf die Eimer neben Helmut Schmidt.
    »Aber Großmutter ist doch seit zwanzig Jahren tot! Machst du da was mit der Paste?«
    Nullkück schüttelte den Kopf.
    Paul schaute wieder nach draußen auf die Oberfläche seiner Großmutter. Früher war sie immer hochpoliert, und die hochpolierte Großmutter war so etwas wie eine Kriegserklärung gegen ihren Mann und gegen Marie gewesen. Sie hatte sich in den Kampfzeiten nicht nur mit Wiener Kalk oder Bimsmehl geschrubbt, sondern ihre Oberflächen auch mit Schlämmkreide oder Kochwasser aus weißen Bohnen bearbeitet, was angeblich half. Als es später diese spezielle Paste aus den orangefarbenen Eimern gab, schrubbte sie damit weiter, bis ihr Mann irgendwann die Paste vor ihr versteckte. Das Zeug war sehr teuer und vorgesehen für die bedeutenden Menschen im Garten wie Luther, Rodin, Bismarck oder Willy Brandt. Großmutters Helden wie Heinz Rühmann oder Rilke verweigerte er ebenfalls die Spezialpaste, für ihn waren das Überläufer, die zum Lebensbereich seiner Frau gehörten, sie musste sie weiterhin mit dem Bohnenkochwasser bearbeiten.
    Allerdings erwischte Greta ihren Mann einmal dabei, wie er früh am Morgen vor Marie stand, um ihren Körper mit der Paste zu bestreichen. Das war ein Krach. Und ihr Kampf wurde immer schlimmer. Besonders schlimm war, dass Marie einen Sockel hatte und Greta nur eine Bronzeplatte unterlegt bekam wie die Bauernskulpturen, wodurch sie auch viel kleiner war als Marie. Oft liefen die Kunden durch den Garten und interessierten sich für die große, schöne Frau am Rande des Grundstücks, doch jedes Mal sagte Paul Kück: »Unverkäuflich!«
    »Können Sie keine Kopie machen lassen?«, fragte Ferdinand von Schulenburg, der private Kück-Sammler.
    »Leider nein, ich bedaure. Marie gehört zur Familie und von der Familie macht man besser keine Kopien«, antwortete Pauls Großvater. »Außerdem, Herr Graf, war sie Kommunistin, eine Andersdenkende!«
    Beide lachten.
    »Alles Ausreden! Haben Sie Kartoffeln auf den Augen, Herr Graf? Sie ist einfach gründlich misslungen!«, rief Greta bitter dazwischen.
     
    Paul rieb den Wiener Kalk vom Armreif ab und überlegte, ob er die Spezialpaste nehmen sollte. Er ließ es, er hatte das Gefühl, dass es wieder Geschrei geben könnte, was absurd war: Seine Großeltern konnten nicht mehr streiten. Sie lagen beide still auf dem Friedhof an der Begrenzungshecke nahe der Felder und Wiesen. Auf der großen kunstvollen Grabstele aus Oberkirchener Sandstein stand:
     
    Paul Kück
     
    *   6. November 1902 + 28. September 1978 Greta Kück, geb.Grotheer
    *   31. März 1905 f 11. November 1979
    Mitten wir im Leben sind

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