Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
mit dem Tod umfangen (Martin Luther)
Rechts von ihnen lag ein junger unbekannter Dichter. Auf seinem Grabstein stand nur »Werden und Vergehen«. Links neben ihnen ruhte Maryan Zurek, Maler und Bildhauer (1889-1944), er starb nach einem Verhör der Gestapo an Herzschlag. Daneben lag Hilde Kück, auf ihrem Stein war auch Hinrich eingetragen:
Hinrich Kück
* 5. Juni 1903 + im zweiten Weltkrieg verschollen
* Hilde Kück, geb. Osthaus
25. Februar 1903 + 30. Oktober 1974
Trennung ist unser Los - Wiedersehen unsere Hoffnung
Nullkück brachte regelmäßig Blumen und sah auch nach dem Grab von Großvater und Greta. Der Weg zum Friedhof, den er zu Fuß zurücklegte, war der einzige, den er ging. Er verließ das Grundstück nur, um Rhododendron zu den Gräbern zu bringen.
Paul bückte sich, dann hielt er ein schwarz eingebundenes Buch in den Händen: das Arbeitsjournal des Großvaters! Es hatte die ganzen Jahre zwischen Wand und Rückseite des Sekretärs gesteckt. Paul schlug die erste Seite auf. Es roch nach Großvater: rauchig, nach Tabak, auch nach Staub und feuchtem Moor:
18. Februar 1946:
Luther-Skulptur: Wie groß war er? Die Renaissance kannte keine Meter. Petrus Mosellanus, Rektor der Leipziger Universität, schrieb 1519: »Martinus ist von mittlerer Leibeslänge.« Studierte noch die Ernährung der Deutschen im Mittelalter und schätze nun: 1,70 ohne Mütze! Umfang: schwerleibig! Siehe sein Gesicht in den Cranach-Gemälden von 1526 bis 1543: Sooft ich sie betrachte, jedes Mal erscheint mir Luther gewaltiger! Mehr Tonmasse verwenden als bei Rembrandt. Transport mit Gießerei klären. Ausdruck: Grobes, Frommes vereinen. Altes, Neues! Ein Mann, der die Welt verändert, aber an sich selbst ändert er nichts! Fühle mich Luther nah. Duldete neben sich keinen anderen Bibelausleger. (Schönen Gruß an Emil Jahn!) Ging der große Reformator zweimal die Woche seinen ehelichen Pflichten nach? (Unseren Pastor fragen!) Seele? »Von den Juden und ihren Lügen« lesen. Lutherschrift! (Erstausgabe Wittenberg) »Die Seele eines Menschen ist ein ewig Ding ...« (Luther, Tischreden.) Dann lebt sie also! Und ich baue der Lutherseele ihr Haus!
Am 10. Mai 1946 war vermerkt:
Heute Luther im Garten aufgestellt. Zufrieden. Ein Monstrum geworden. 100 Kilo. Hoffe auf trockenen Sommer! (Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts bis zum Dreißigjährigen Krieg werden die Menschen wieder kleiner u. dünner, außer die Rubens-Frauen ...)
Am 25. März 1955 hatte sein Großvater in das Arbeitsjournal geschrieben:
Rilke-Skulptur: Sehr dünn. Habe mir heute bei Gerken die Ziegen angesehen. Wie kommen die Elegien in so einen Ziegenmenschen? Ausdruck: kühl, etwas Geiziges. Wie einer, der nur nach innen und für sich sein kann. Und im Leben still und leise Menschen tötet.
PS: Gretas ewige Zitiererei von den treibenden oder fallenden Blättern kann ich nicht verknusen. Ist ja bald so schlimm wie mit dem Topf!
Sie liefen weiter durch das Haus. Im Heizungsraum stand ein großes Bild an der Wand. Unter den Spinnweben, die Paul an einer Stelle wegwischte, leuchtete ein Stück Blau hervor. Er wischte weiter und sah einen Himmel, der aussah wie jener, den er schon in seinem alten Kinderzimmer betrachtet hatte. Wieder empfand Paul, die Wolken würden sich bewegen und wie eine unendlich große Macht über das Land hinwegeilen, er kam sich ganz klein vor. Nullkück stand hinter ihm und strich mit der Hand vorsichtig über Pauls Schulter.
Sie liefen über die Diele im östlichen Flügel, wo früher die Schlafbutzen in die Wand eingelassen waren, in denen Hilde, Hinrich, Marie, Johan und alle Kinder schliefen.
Später hatte Hilde die Butzen zumauern lassen, nachdem die Männer und Marie umgekommen oder verschwunden waren. Hier war nichts zu tun. Nullkück schob nur ein Fahrrad mit platten Reifen in die Mitte der leeren Diele.
Paul sah die alte Gefrierkühltruhe. Er überlegte sie zu öffnen, um nachzusehen, ob es das angebissene Stück Butterkuchen noch gab.
In der Wäschekammer fand er an der Wand eine Holzkiste. Zwischen den silbernen, gelben und weißen Spielautos von seinem Vater aus Amerika lag der Ball von damals, mit dem er sich Zutritt zum geheimnisvollen Haus mit den Frauen verschafft hatte.
Das Haus lag am Rande vom Weyerberg, gleich hinter dem Barkenhoff. Daneben gab es eine der trockensten Wiesen, da hatten sie Fußball gespielt, Paul und die anderen Kinder. Er war Schlussmann und drehte
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