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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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sich oft nach dem Fenster um, das rot und geheimnisvoll leuchtete, wenn sich der Abendnebel und die Dämmerung auf die Wiese zu legen begannen. Einmal stand es offen und Paul sollte den Abstoß von seinem Tor ausführen, doch er schoss den Ball durch das so oft beobachtete Fenster, dann klingelte er ...
    Paul nahm den Ball in die Hand. Er war ganz ledrig hart, wie eine alte Haut, wie etwas, das Jahrhunderte im Moor überdauert zu haben schien. Er warf ihn wieder in die Holzkiste, neben die Spielautos, neben eine Drachenschnur ohne Drachen. Er nahm eine längliche Pistole heraus, die wohl Großvater gehört hatte, auf dem braunen Holzschaft stand »Napoleon«. Das Zündhütchen war aufgesetzt, der Schlaghahn gespannt, ohne Sicherheitsrast.
    »Das gibt's doch nicht«, sagte Paul. »Ich glaube, die ist ... Das kann doch nicht sein, oder?«
    Nullkück zuckte mit den Augen und nahm Abstand.
    Paul legte die Vorderladerpistole vorsichtig zurück in die Holzkiste. »Okay. Bleibt nur noch dein Zimmer.«
    Nullkücks Zimmer lag im östlichen Flügel, direkt an den hinteren Garten grenzend. Brüning hatte die Außenwand markiert, um anzudeuten, dass auch dort alles so weit vorbereitet werden sollte, damit man für die Bohrungen die Wand abtragen konnte.
    »Es tut mir leid«, sagte Paul. »Umgekehrt wäre es mir lieber gewesen«, denn in seinem Zimmer im westlichen Flügel musste nicht geräumt werden. Die große Eiche war mit ihren Wurzeln bis zur Hauswand vorgedrungen und hatte diesen Bereich unantastbar gemacht, dort konnte Brüning nicht direkt mit den Bohrungen ansetzen.
    Nullkück öffnete die Tür und bedeutete Paul mit einem Kopfnicken einzutreten.
    Das Zimmer sah aus, als würde hier die alte mit der neuen Zeit zusammenstoßen und sich daraus eine andere Welt anordnen. In den Ecken standen getrocknete Kornblumen, die es kaum noch gab, weil die Getreidefelder zu feucht geworden waren. In den braunen Tonkrügen blichen sie bläulich vor sich hin wie die Schrift im Arbeitsjournal des Großvaters.
    An der Wand über dem Bett hingen drei Setzkästen mit Zinnsoldaten, die Nullkück sammelte und sich liefern ließ. Sie ritten hoch zu Pferde und trugen Fahnen und Quasten auf Helmen. Sie marschierten mit geschulterten Gewehren in blauen Mänteln über roten Hosen. Manche wurden von Nullkück verändert, weil er es nicht mochte, wenn in seinem Setzkasten über dem Bett geschossen wurde. Dann sägte er den Figuren das schussbereite und waagerecht gehaltene Gewehr aus den Händen und lötete es geschultert woanders wieder dran. Er nahm dafür Großvaters altes Silberlot, schmirgelte und malte nach. Er schüttelte den halben Tag den Kopf, wenn ihm der Postbote Soldaten lieferte, die anders aussahen, als er sie bestellt hatte. Er bestellte nur Friedenstruppen.
    Auf dem Boden stand ein altes Radio von Nordmende (Marke »Fidelo«),an dem die Kücks früher die Kriegsnachrichten abgehört hatten und auf dem jetzt ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto von Hilde stand mit müden Augen.
    Nullkück wischte mit dem Ärmel über das Foto und stellte es zärtlich auf das Radio. Er drückte einen der riesigen weißen Knöpfe und drehte an Rädern für Laut und Leise, die im Durchmesser fast so groß waren wie seine Buchweizenpfannkuchen. Das Gerät hatte sogar einen Plattenspieler im Deckel, und Nullkück besaß ein paar Schallplatten der »Scorpions«, die er am liebsten hörte.
    Gegenüber stand einer dieser von Heinrich Vogeler entworfenen Stühle, mit den geschnitzten Tulpen auf der Rückenlehne. Darüber hatte Nullkück seine zweite Cordhose geworfen, die dunkelblaue, die er abwechselnd mit der dunkelbraunen trug, zusammen mit den Hosenträgern, die ihm Hilde 1955 zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.
    Sein Bett, auf rostigen Eisenfüßen aufgestellt und mit stacheldrahtartigen Federungen durchzogen, sah aus wie aus dem Mittelalter. Nur das Laken aus Frottee der Firma Frotex schien aus diesem Jahrhundert zu stammen. Nullkück hatte das Laken auf eine Matratze gezogen, die so durchgelegen war, dass sie sich zur Mitte hin senkte wie das Tiefland, in dem er lebte.
    Auf dem Fensterbrett lagen sein Fernglas, ein Waschlappen, ein paar dicke Strümpfe und Steine, abgebrochene Stücke von Findlingen aus der Urstromzeit, wie auf dem Sekretär im Atelier des Großvaters. Nullkück sammelte alles ein und legte es in eine große, rissige Holzschale, aus der Hinrich früher die Saat für den Buchweizen gestreut hatte. Daneben stellte er seinen

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