Der Marathon-Killer: Thriller
Baldwin ein und stand von seinem Platz in der vordersten Reihe auf. »Sie
haben zwar ihren Ursprung ebenfalls in der islamischen Schia, doch das liegt über hundertfünfzig Jahre zurück. Heute werden sie von der schiitischen Geistlichkeit als Häretiker und als Bedrohung des Islams betrachtet. Die Revolutionsgardisten im Iran haben sie sich gerade wieder vorgeknöpft. Sie sind die größte religiöse Minderheit im Land und werden am schärfsten verfolgt. Ihre Führer werden wegen Abtrünnigkeit hingerichtet, ihre Schulen werden geschlossen, sie bekommen keine Pässe und dürfen nicht im Staatsdienst arbeiten. Die Bürgerrechte werden ihnen verweigert.«
»Und das ist auch der Grund, weshalb POTUS ihnen einen Besuch abstattet«, sagte Spiro und stellte seine Autorität gegenüber der Versammlung wieder her, während Baldwin sich setzte. »Symbolische Unterstützung für einen Regimewechsel. Leila, würden Sie unsere Unwissenden vielleicht noch ein wenig mehr erleuchten?«
Spiro warf Baldwin einen Blick zu, als Leila von ihrem Platz in der dritten Reihe nach vorn zu ihm und Johnson auf die Bühne ging. Einen Moment lang stand sie im Strahl des Projektors, und das Bild des Lotustempels lag auf ihrem Gesicht. Sie trat zur Seite und hob eine Hand, um ihre Augen abzuschirmen.
»Es gibt weltweit über fünf Millionen Bahai«, begann sie, und die Emotionen waren in ihrer Stimme deutlich zu hören. »Zufällig gehört auch meine Mutter dieser Religion an. Die größte Gruppe lebt in Indien, die zweitgrößte im Iran, wo auch alles anfing.« Sie hielt inne, sammelte sich und sah Baldwin an. »Die Bahai glauben, dass Moses, Buddha, Krishna, Jesus, Mohammed und Baha’u’llah, der Religionsgründer, Manifestationen des universellen Gottes
waren. Baha’u’llah wurde im neunzehnten Jahrhundert in Persien geboren, es ist also eine relativ junge Religion. Er glaubte an spirituelle Einheit, an den Weltfrieden, an die Pflicht zur Bildung für jeden. Außerdem lehnte er jegliche Form von Vorurteilen ab.« Erneut zögerte Leila. »Tut mir leid«, sagte sie. »Die Hitze.«
Jeder im Saal wusste, es war nicht nur die Hitze.
»Nun verstehen Sie vermutlich, warum POTUS unbedingt den Tempel besuchen will«, sagte Spiro und stellte sich zu ihr. »Brauchen Sie eine Pause, Kleine?« Er hatte jetzt den Arm um sie gelegt und drückte ihre Schulter.
»Geht schon, danke«, sagte Leila und goss sich ein Glas Wasser aus einer der Plastikflaschen ein, die auf dem Tisch neben ihr standen. »Das Haus der Andacht, besser bekannt unter dem Namen Lotustempel, wurde von einem iranischen Architekten für die Bahai entworfen. Die unverkennbare Form basiert auf einer halb geöffneten Lotusblüte.«
»Es erinnert mich an die Oper in Sydney«, meinte Spiro.
»Man sagt, es sei das meistbesuchte Gebäude der Welt«, fuhr Leila fort. »Jeder ist willkommen: Hindus, Juden, Christen, Parsen, Muslime, einfach jeder. Der Präsident wird begeistert sein. Es ist ein ganz besonderer Ort.«
Leila kehrte zu ihrem Platz zurück, doch sie wollte raus aus diesem stickigen Raum und auch raus aus Delhi und überhaupt aus Indien. Sie wollte bei ihrer Mutter sein.
»Danke, Leila«, sagte Spiro. »Das war sehr aufschlussreich.« Im Saal wurde applaudiert, und einige Leute vom Secret Service drehten sich zu ihr um. Spiro warf Baldwin
einen Blick zu und fuhr fort: »Aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse haben wir Leila gebeten, sich bei diesem Teil der Reise der Gesellschaft von POTUS als Vertreterin der CIA anzuschließen.«
»Bei allem Respekt für Leila, ist das nicht eigentlich unüblich?«, fragte Baldwin. »Wir wissen natürlich zu schätzen, was sie in London geleistet hat, aber …«
»Nein, David, das ist nicht unüblich«, unterbrach ihn Spiro. »Nicht im Geringsten. Es ist eine große Ehre für die Agency und sonst gar nichts.«
»Und eine Ehre für uns alle«, sagte Johnson, der die Spannungen spürte. »Der Präsident möchte sich persönlich bei Leila für die gute Arbeit in London bedanken, so wie wir alle vom Secret Service.« Erneut erhob sich Applaus im Saal. »Es ist kein Geheimnis, dass wir in Langleys Schuld stehen. Und es ist kein Geheimnis, dass wir es höchst ungern zugeben. Ich muss daher wohl nicht extra erwähnen, dass wir diesmal nicht auf eine Heldentat von Leila angewiesen sein werden.«
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Diese Ansammlung von höhlenähnlichen Hütten am Hang erinnerte Marchant an Tora Bora. Er selbst war nie in Afghanistan gewesen, doch er hatte die
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