Der Marathon-Killer: Thriller
gewesen.
Marchant setzte sich auf, schaute sich den Rucksack an und wurde sich zunehmend des Geruchs bewusst, der davon ausging. Prentice hatte ihm den Rucksack vor einer Stunde in der Botschaft gegeben. Er war abgewetzt und ausgebeult, und unten war ein heller, orangefarbener Schlafsack befestigt.
»Das Ding liegt hier schon seit Monaten herum, da können Sie es ebenso gut mitnehmen«, hatte Prentice beiläufig erwähnt.
»Wem gehört er?«, fragte Marchant und betrachtete die Aufnäher aus Paris, Prag und München.
»Einem Studenten, der ein Jahr durch Europa reisen wollte. Ist vor sechs Monaten gestorben.«
»Wirklich?«
»Ja, an einer Überdosis. Wir haben seine Leiche überführt, aber der Rucksack ist irgendwie liegen geblieben. Wurde als Beweisstück konfisziert. Die Polizei hier hielt ihn für einen Drogenkurier und Teil eines Rings. Die Hunde haben dran geschnüffelt, aber nichts gefunden. Schauen Sie ihn sich besser noch mal an.«
»Wie alt war er?«
»Ein bisschen jünger als Sie, gleiche Größe, nicht ganz so ansehnlich, allerdings habe ich ihn nur auf dem Leichentisch gesehen.«
»Familie?«
»Mittelschicht aus Hampshire. Die hatten ihn offensichtlich verstoßen. Haben sich auch nie um seine persönlichen Sachen bemüht.«
Marchant begann, den Rucksack auszupacken, vorsichtig wie ein Zollbeamter. Wie vermutet roch die Kleidung muffig und enthüllte wenig über den Vorbesitzer, außer dass dieser während seiner Reise auf einen Besuch im Waschsalon verzichtet hatte. Die Fleecepullis und Sweatshirts würde er wegschmeißen, denn in Indien brauchte er dünne Kleidung, aber die kragenlosen Hemden und Baumwollhosen würde er in die Waschmaschine des Hostels werfen. Der Reiseführer für Polen war ebenfalls überflüssig, dafür könnten die Armbänder nützlich werden, wenn er in Indien war, obwohl sie nicht halb so schick waren, fand er, wie seine eigenen, die er damals getragen hatte.
Er sah sich seinen Pass noch einmal an und konnte sich auf dem Foto kaum wiedererkennen: rasierter Kopf, safrangelbes
Batik-T-Shirt, Stecker im linken Ohr, Muschelkette locker um den Hals. Die Stümper, die beim MI6 für gefälschte Dokumente zuständig waren, hatten sich selbst übertroffen. Sie hatten seine Züge etwas älter gemacht im Vergleich zum Originalfoto, das während seines Jahrs in Indien entstanden war. In Wirklichkeit sah er noch älter aus, aber er war sicher, er würde trotzdem als Student durchgehen. Eine gelungene Täuschung hing mehr von Gang, Haltung und Sprechweise als von bestimmten Gesichtsmerkmalen ab.
Das Jahr zwischen Schulabschluss und Studienbeginn war eine sorglose Zeit in seinem Leben gewesen. Als seine Mutter in seinem letzten Jahr auf der Schule starb, hatte er vor allem Erleichterung verspürt, denn ihr Tod gestattete es ihm, befreiter auf die Reise zu gehen. Achtzehn Monate hatte sie an Krebs gelitten, doch die Zerrüttung ihrer Gesundheit hatte bereits zehn Jahre zuvor begonnen, als Sebastian starb. Schwere Depressionen hatten sie nach Sebastians Tod gequält, und die Depressionen seiner Mutter hatten auch ihn gequält, wie ihm mittlerweile klar geworden war.
Sein Vater hätte sein ganzes Reisejahr beinahe sabotiert, und zwar in der Nacht vor seiner Abreise. Sie saßen in der Küche ihrer Londoner Wohnung in Pimlico, und sein Vater sagte ihm, dass er es locker angehen und sein Leben ein bisschen genießen sollte. Von jedem anderen Vater hätten diese Worte den Absturz für einen Sohn im Teenageralter bedeuten können, doch die beiden hatten während der Krankheit der Mutter ein inniges Verhältnis zueinander entwickelt, darum schenkte sein Vater ihm nur einen weiteren Bruichladdich ein und lachte.
»Nur für den Fall, dass du jemals an eine Karriere beim Service denken solltest, es gibt zwei Dinge, bei denen die Jungs von der Sicherheitsüberprüfung nervös werden«, hatte sein Vater hinzugefügt. »Heroin und Nutten.«
»Die perfekte Qualifikation für einen Journalisten.«
»Das ist immer noch dein Ziel, oder?«
»Irgendwer muss doch die Korruption in Whitehall aufdecken«, erwiderte er grinsend.
»Deine Mutter hat sich immer einen Arzt in der Familie gewünscht, das weißt du doch.« Marchant schaute zu, wie sein Vater den Whisky hinunterkippte, und dabei zitterte seine sonst ruhige Hand.
»Weil sie geglaubt hat, Sebbie hätte gerettet werden können?«
»Die Ärzte waren sehr freundlich und haben gesagt, es hätte nichts für ihn getan werden können, trotzdem
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