Der Marathon-Killer: Thriller
hat sie sich immer die Schuld an dem Unfall gegeben.«
An die Jahre direkt nach Sebastians Tod erinnerte er sich nur noch verschwommen, eine eigenartige Zeit, ein Übergangsstadium, das vom Rest seiner Vergangenheit losgelöst war. Viele Menschen waren ihm mit übergroßer Freundlichkeit begegnet, und er hatte mehr Zeit mit seinem Vater und seiner seltsam verschlossenen Mutter verbracht. Sein Vater ließ einmal eine Andeutung über eine Art psychischer Krankheit fallen, über dieses Thema konnte er jedoch nicht mit ihm sprechen. Seine eigene Trauer entwickelte sich gegenläufig; jedes Jahr vermisste er Sebastian mehr als zuvor.
Marchant dachte wieder an seinen Bruder, als er den neuen Lebenslauf las: die Einzelheiten der Familie (Vater englisch, Mutter irisch), die Schulen, alles entsprach seinem
eigenen Leben, bis auf den irischen Pass, der lediglich eine organisatorische Entscheidung war (das würde weniger Aufmerksamkeit auf ihn lenken als ein britischer Pass). Es frustrierte ihn, dass er nicht mehr sicher unterscheiden konnte, welche Erinnerungen seine eigenen waren und welche vom Familienalbum geprägt worden waren. Einmal hatte Sebastian im Obstgarten in Tarlton gespielt und ihrem Vater, der in der Hängematte schlief, Äpfel auf den Kopf fallen lassen; er sah außerdem immer noch vor sich, wie sie im Schneidersitz in ihrem Zimmer oben im Cottage saßen und versuchten, auf ihren indischen Dholak -Trommeln so viel Lärm wie möglich zu erzeugen. Davon gab es keine Fotos.
Im Lebenslauf folgten der Tod der Mutter und natürlich auch der des Vaters, dazu die Neigung, zu viel zu trinken (eine besonnene Geste der Fälscher), aber der Vater von David Marlowe hatte im British Council, der Einrichtung zur Förderung internationaler Beziehungen, Karriere gemacht. Marchant verfluchte sie, weil sie für Marlowes frühe Jahre nicht mehr Fantasie aufgebracht hatten. Marlowe hatte ebenfalls den Bruder verloren, bei einem Autounfall in Delhi, wohin sein Vater versetzt worden war. Selbst der Name war derselbe: Sebastian; aber hatte Marlowe je unter dem Verlust gelitten, die spitzen Stiche aus dem Schatten gespürt, die sich zu jeder Tages-oder Nachtzeit in ihn hineinbohren konnten? Marchant knüllte das Papier zu einer Kugel zusammen. Wenn es etwas gab, was er gern aus Marlowes Vergangenheit gestrichen hätte, dann Sebastians Tod. Aber so brauchte er zumindest in diesem Punkt nichts vorzuspielen.
Er brachte die Kleidung in einer Plastiktüte nach unten
und kaufte sich Münzen und Waschpulver an der Rezeption. Die junge Frau am Tresen sah die Tasche und lächelte über seine Häuslichkeit. Sie hatte sich eine Blume hinter ein Ohr geklemmt, stellte sich als Monika vor und scherzte, irische Reisende hätten immer die sauberste Kleidung. Marchant wusste, solche Unterhaltungen stellten ein Risiko dar, doch sie hatte das Gespräch begonnen, und deshalb würde es verdächtiger wirken, wenn er nichts erwiderte. Außerdem sah Monika gut aus, unkonventionell, Anfang zwanzig - genau Marlowes Typ.
»Schicke Blume«, sagte er mit leichtem Dubliner Akzent wie dem seiner Mutter und erwiderte das Lächeln.
»Danke.«
»Mein Zimmer ist voll davon.«
»Ach, du hast das Dom Browskiego. Gefällt’s dir? Der Künstler ist ein Freund von mir.«
»Dufte«, sagte er und hoffte, die Ironie werde bei ihr ankommen.
Monika lachte fröhlich, als er in Richtung Waschsalon davonging.
»Duf-te«, hörte er sie wiederholen, wobei sie das Wort ganz langsam aussprach.
Unter dem Punkt Sexualität wurde David Marlowe als »promiskuitiv, heterosexuell« beschrieben. Er fragte sich, ob das ebenfalls aus seiner eigenen Akte stammte. In der Anfangszeit im Fort hatte er sich alle Mühe gegeben, eine feste Beziehung mit Leila zu vermeiden, und sich absichtlich mit anderen Frauen getroffen. Die Spionschule, so hatte er gescherzt, war nicht der richtige Ort, um eine ehrbare Frau aus ihr zu machen: Dort lernte man betrügen und lügen, nicht lieben. Marchant kehrte allerdings
immer wieder zu Leila zurück, die darüber weder überrascht war noch nachtragend reagierte. Zumindest bis vor Kurzem. In den Monaten vor seiner Suspendierung, als er gerade so weit gewesen war, die Beziehung zu akzeptieren (und zu brauchen), hatte sie sich eher zögerlich gezeigt und in ihren Gefühlen geschwankt: Im einen Augenblick zog sie ihn zu sich heran, im nächsten stieß sie ihn fort.
Während er die Kleidung in eine der leeren Waschmaschinen stopfte, wusste er, dass es David
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