Der Marktmacher
hatte. Es war ein kleiner Revolver. Das Metall glänzte matt im dämmrigen Licht des Lagerraums. Er gab ihn Euclides. Entsetzt sahen Cordelia und ich zu.
Der Zwölfjährige nahm die Waffe und steckte sie in seinen Hosenbund. »Okay«, sagte er. »Ich finde sie.«
Der Freitag verstrich. Das Wochenende zog sich hin. Luís blieb auf Bitten der Banco Horizonte in London. Von Euclides hörten wir nichts.
Dafür hörten wir von Zico. Ich war allein in der Wohnung, als er anrief.
»Hallo?« sagte ich.
»Wer ist am Apparat?« fragte eine tiefe Stimme unwillig.
»Nick Elliot. Luís ist in London.« Luís hatte Zico angekündigt, daß möglicherweise ich am Telefon sein würde, wenn er nicht da wäre. Offenbar sprach Zico ein bißchen Englisch.
»Okay. Ist die Übernahme gestoppt?« Sein Englisch wirkte gestelzt, war aber korrekt, als habe er die Sätze eingeübt.
»Noch nicht«, sagte ich. »Aber die Banco Horizonte unterbreitet eine Offerte. Wir hoffen die Angelegenheit so zu verzögern, daß Bloomfield Weiss aufgibt.«
»Verstehe. Hoffentlich haben Sie Erfolg. Wenn jemand Dekker Ward übernimmt, stirbt Isabel. Egal wer . Haben Sie verstanden? Bloomfield Weiss oder die Banco Horizonte.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
Er legte auf.
Ich stützte den Kopf in die Hände. Am nächsten Mittwoch würde entweder das eine oder das andere passieren. Entweder würde Lord Kerton an Bloomfield Weiss verkaufen oder an die Banco Horizonte. Beides würde Zico mi ß fallen.
Ich schauderte. Wie mochte Euclides vorankommen?
Am Freitag abend waren Cordelia und ihr Mann in di e W ohnung gekommen. Sie sagten, sie würden den größten Teil des Wochenendes bei mir bleiben, um mir Gesellschaft zu leisten und um in der Nähe von Luís ’ Telefon zu sein. Fernando brachte eine russische Ausgabe von Doktor Sch i wago mit, die ihm ein Freund an der Universität besorgt ha t te. Ich freute mich darüber. Ich kannte das Buch zwar schon, las es aber gern noch einmal. Eine halbe Stunde lang ließ es mich Isabel und die sorgenvolle Gegenwart verge s sen.
»Glauben Sie, Euclides hat den Revolver genommen und sich aus dem Staub gemacht?« fragte ich Cordelia beim Abendessen, das wir in gedrückter Stimmung einnahmen.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich glaube nicht. Er ist ein tapferer Junge und stolz auf seinen Mut. Das sind viele dieser Kinder.«
»Die Menschen scheinen hier nicht besonders an ihrem Leben zu hängen«, sagte ich.
»Das stimmt. Ein Menschenleben ist hier nicht viel wert. Wissen Sie, was Train-Surfing ist?«
»Nein.«
»Ein beliebter Sport bei den Straßenkindern. Sie springen auf fahrende Züge und klettern auf die Dächer der Wagen. Am gefährlichsten ist es, wenn die Züge durch Tunnel fahren. Wer zuletzt abspringt, hat gewonnen. Jedes Jahr kommen Dutzende dabei um. Euclides ist ein bekan n ter Train-Surfer. «
»Aber wird er Isabel finden?«
»Ich glaube, er wird meinetwegen nach ihr suchen.«
»Er ist Ihnen sehr zugetan.«
Cordelia senkte den Kopf. »Ja. Und deshalb nimmt er nun einen Revolver und rückt Leuten auf die Pelle, die ihn umbringen, wenn sie herauskriegen, was er vorhat. Eines Tages wird er diesen Revolver bestimmt benutzen.«
Fernando legte seine Hand auf die ihre. »Ihr mußtet ihm die Waffe geben, minha querida . Er lebt nicht in unserer Welt. In den F avelas mußt du Dinge für deine Familie tun, die draußen undenkbar wären. Das weißt du doch. Du hast es doch gesehen.«
»Ja, ich habe gesehen, daß sich die Menschen dort auf Waffen und Gewalt verlassen«, murmelte Cordelia. »Aber ich hätte nie gedacht, daß ich es eines Tages auch tun wü r de.«
Nach dem Abendessen tranken wir Caipirinhas auf dem Balkon. Cordelias Blick ruhte mit einem Lächeln auf mir. Es hatte Ähnlichkeit mit dem ihrer Schwester, nur war es ein bißchen ausgeprägter, selbstbewußter. Trotzdem, es e r innerte mich an Isabel. Das gefiel mir.
»Irgendwie verrückt, endlich trifft man mal einen von Isabels Freunden«, sagte sie.
»Hält sie die ansonsten so versteckt?«
»Sie behauptet, es gäbe keine. Jedenfalls seit Marcelo.«
»Das hat sie mir auch erzählt.« Ich beschloß, Ricardo aus dem Spiel zu lassen. »Wie war dieser Marcelo?«
»Gutaussehend, wirklich gutaussehend. Aber er wußte darum.« Cordelia rümpfte die Nase. »Isabel war total in ihn verschossen. Und ich glaube, wenn er mit ihr zusammen war, dann war er auch in sie verliebt. Aber als sie in den Vereinigten Staaten studierte, gingen seine
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