Der Marktmacher
schon selber fragen.«
Isabel lächelte verzückt. »Was für eine herrliche Neuigkeit. Sie ist bestimmt überglücklich. Und du erst. Du wirst bestimmt ein wunderbarer Großvater.«
Luís strahlte. Offenkundig freute er sich schon auf die neue Rolle.
»Also, wir müssen heute nachmittag unbedingt zu ihr«, sagte Isabel zu mir.
»Ich möchte auf gar keinen Fall stören. Vielleicht sollten Sie besser allein hingehen.«
»Nein, ich würde mich freuen, wenn Sie sie kennenlernen«, sagte Isabel. Das überraschte mich ein wenig. Was lag ihr daran, daß ich ihre Schwester kennenlernte? »Ich meine natürlich, der Hort wird Sie sehr interessieren.«
»Gut, wenn das so ist, dann komme ich ausgesprochen gern mit.«
SECHS
I ch schwitzte wie ein Schwein, als ich mich unter der Spätnachmittagssonne den staubigen Weg hochquälte. Heftig keuchend, sog ich mit jedem Atemzug den fauligen G e stank menschlicher Ausscheidungen ein, dem sich noch der Geruch von verdorbenen Lebensmitteln und Alkohol hinzugesellte. In England gehe ich als groß, dunkel und schlank durch. Aber hier, während ich diesen Hügel aus Schmutz und Schlamm hochkletterte, fühlte ich mich wie ein großer, weißer, fetter, reicher Mann.
Luís ’ Auto und Fahrer hatten wir am Fuß des Hügels zurückgelassen. Die meisten F avelas liegen auf Hügeln, die zu steil sind, um richtige Häuser darauf zu bauen. Zu beiden Seiten des Weges drängten sich behelfsmäßig zusammengezimmerte Hütten. Sie waren aus den verschiedensten Materialien erbaut, aber Ziegelsteine und Sperrholz schi e nen vorzuherrschen. Kleine Löcher in den Wänden die n ten als Fenster. Gelegentlich hörte ich ein geheimnisvolles Rascheln in der Dunkelheit dahinter. Wäschestücke, die zum Trocknen von den Fenstersimsen herabhingen, e r gänzten das Ziegelrot oder Mörtelgrau der Hütten durch ein paar bunte Farbtupfer. Überall sah man Kinder; die meisten Jungen waren nur mit kurzen Hosen bekleidet. Eine Gruppe spielte mit einem Reifen, eine andere mit einem Fußball; ein schwieriges Unterfangen auf diesem steilen Abhang. Vor uns stakste ein Zweijähriger mit knallgelben Haaren und greinte, bis ihn eine schwarze Frau, die hinter ihm hertrottete, auf den Arm nahm.
Wir kamen an einer Reihe von Ständen vorbei, an denen Gemüse und Obst verkauft wurde. Einer der Händler, ein Mann mit bronzefarbener Haut, trug ein T-Shirt, auf dem in Englisch zu lesen stand: Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, hat gewonnen. Wo zum Henker hatte er das nur her?
Eine Gruppe älterer Kinder musterte uns mit kalten, stolzen Augen, als wir an ihnen vorbeikamen. Sie reichten eine Tüte herum: Mit einem Ausdruck feierlicher Konzentration nahm jedes von ihnen einen tiefen Atemzug da r aus.
»Sind Sie sicher, daß es hier nicht gefährlich ist?« fragt e i ch.
»Nein«, sagte Isabel, schwer atmend, ein paar Schritte vor m ir.
»Es ist also gefährlich?«
»Ja.«
»Oh.«
Seit zwei Tagen hatte es nicht geregnet, aber hin und wieder verwandelte sich der Untergrund aus Staub in Matsch. Neben dem Weg verlief ein offener Abflußkanal. Ich versuchte, nicht daran zu denken, in was ich da möglicherweise gerade trat.
Schließlich erreichten wir ein kleines Plateau, auf dem eine behelfsmäßige Kirche stand, klein und weiß, und ein größeres rechteckiges Gebäude, das mit bunten Wandgemälden verziert war. Ich blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und wandte mich um. Unter mir entfaltete sich eine der eindrucksvollsten Landschaften, die ich je e r blickt hatte. Die weißen Gebäude der Stadt schlängelten sich zwischen grünen Hügeln hinab zum Meer, das in der Ferne glitzerte. Ich suchte die Christusstatue, die man in Rio von fast jedem Punkt aus sieht, aber sie verbarg sich hinter Wolken, die an den Bergen dahinter hängengebli e ben waren.
»Für dieses Plätzchen würde manch einer ein hübsches Sümmchen hinblättern«, sagte ich.
»Glauben Sie mir, diese Leute bezahlen auch, um hier zu leben. Mit mehr als nur Geld.«
Wir näherten uns dem Eingang des Gebäudes, wobei wir vorsichtig durch einen kleinen, aber sehr gepflegten Vorgarten gingen. Nach dem rotbraunen Schmutz waren die roten, blauen, gelben und weißen Farbtupfer sehr angenehm fürs Auge.
Die Tür sprang auf, und eine Frau stürzte heraus, um Isabel zu umarmen. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen, obwohl Cordelia schwerer, älter und herber wirkte. Leidenschaft und Willensstärke hatten ihre Spuren in diesem Gesicht
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