Der Marktmacher
hinterlassen.
Wir gaben uns die Hand.
»Cordelia, das ist mein Kollege Nick Elliot«, sagte Isabel auf englisch. »Ich habe ihn mitgebracht, um ihm zu zeigen, was du hier machst. Du hast doch hoffentlich nichts dag e gen?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Cordelia mit freundlichem Lächeln. »Je mehr Menschen es sehen, desto besser.«
Isabel warf einen Blick auf Cordelias Bauch und fragte etwas auf portugiesisch. Cordelias Lächeln wurde noch strahlender, woraufhin Isabel einen Schrei ausstieß und der Schwester die Arme um den Hals schlang. Zwei Minuten lang schnatterten sie aufgeregt auf portugiesisch, dann wandten sich ihre strahlenden Gesichter mir zu.
»Tut mir leid, Nick«, sagte Isabel.
»Das ist schon okay«, sagte ich. »Ich glaube, das Wichtigste habe ich mitbekommen«, fügte ich, nun auch lächelnd, hinzu. Ihre Freude steckte an. Ich nickte Cordelia zu. »Gratuliere.«
»Danke«, sagte sie. »Isabel hat Ihnen also erzählt, was wir hier tun?« Ihr Englisch war langsam und sorgfältig, der Akzent viel stärker als der ihrer Schwester.
»Nur in groben Zügen. Daß sie einen Hort für Straßenkinder leiten.«
»Richtig. Hier bekommen sie eine anständige Mahlzeit, finden jemanden, mit dem sie sprechen können, und h a ben das Gefühl, irgendwohin zu gehören.«
»Bleiben sie über Nacht?«
»Wir haben nur ein paar Übernachtungsplätze für die Kinder die wirklich um ihr Leben fürchten.«
»Vor wem haben sie Angst?«
»Meistens vor der Polizei. Oder den Todesschwadronen. Männer, die den Ladeninhabern versprochen haben, die Straßen von den Kindern zu säubern. Sie schlagen sie zusammen oder bringen sie um.« Cordelia sagte es ohne e r kennbare Gefühlsregung.
»Warum? Was haben sie getan?«
»Alles mögliche. Meistens stehlen sie. Aber das muß nicht sein. Früher kam der neunjährige Patricio häufig zu uns. Letzten Monat wurde er umgebracht, erdrosselt. Die Leiche wurde am Strand gefunden, an seinen Kleidern hing ein Zettel: › Ich habe dich getötet, weil du nicht zur Schule gegangen bist und weil du keine Zukunft hattest. ‹ «
Ich war entsetzt und blickte Cordelia mißtrauisch an. Alles in mir sträubte sich gegen das, was ich da hörte. Ich wollte feststellen, ob sie übertrieb, aber ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Sie konstatierte Tatsachen.
»Warum bleiben sie ungeschoren? Unternimmt die Polizei nichts?«
»Die meisten Morde gehen ja auf das Konto der Polizei, entweder in Uniform oder Zivil.«
»Und was ist mit der Bevölkerung? Was sagt die dazu?«
»Die kümmert sich nicht darum. Sie tut so, als ob nichts wäre. Manche Leute loben die Polizei sogar, weil sie die Straßen sauberhält.«
Ich blickte sie fassungslos an. »Ich kann das einfach nicht glauben.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Möchten Sie ein paar der Kinder sehen?«
Sie führte uns in das Gebäude hinein. Nach der sengenden, staubigen Hitze der Favela war es hier wohltuend dunkel, uni und sauber. Wir gingen einen langen Flur entlang, wo wir immer wieder Kindern der unterschiedlichsten Altersstufen begegneten. Bilder in hellen, ungezügelten Farben bedeckten die Wände. Dann traten wir in eine Art Klassenzimmer, wo zahlreiche Kinder spielten, sich unterhielten oder einfach herumsaßen und in die Gegend starrten.
»Haben diese Kinder keine Eltern?«
»Viele kennen ihren Vater nicht. Manchmal haben sie Dutzende von Brüdern und Schwestern, mit denen sie alle in einem einzigen dunklen Raum zusammenleben. Von ihren Stiefvätern werden sie geschlagen oder mißbraucht. Häufig verdösen ihre Mütter den ganzen Tag im Vollrausch. Diese Kinder haben es auf der Straße besser. Tag s über gehen sie hinunter in die Stadt, um zu arbeiten, zu betteln oder zu stehlen, und am Abend bleiben sie dort, wenn sie können, oder kommen zu uns herauf.«
Wir gelangten in einen anderen Raum, wo einige Jungen mit einem Lehrer sprachen. Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um eine Unterrichtsstunde oder nur eine Unterha l tung handelte. Einer der Jungen, er mochte etwa zwölf sein, drehte sich nach mir um.
»Hey, Boß «, sagte er. »Hast du Dollar?«
Ich warf Cordelia einen raschen fragenden Blick zu, die unmerklich mit dem Kopf schüttelte. »Tut mir leid«, sagte ich.
»Wie heißt du?«
Der Junge grinste breit, aber seine Augen blieben hart. Ein, zwei Sekunden ruhten sie auf mir, dann huschten sie durch den Raum, als sei jeden Augenblick mit einer Gefahr vom Fenster oder aus einer der Ecken her zu rechnen. Er hatte links
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