Der Marktmacher
ein offenes Bein. Aggressiv war sein erh o benes Kinn auf mich gerichtet.
»Nick«, erwiderte ich. »Und deiner?«
»Euclides. Hast du Kanone, Boss?«
»Nein.«
»Ich habe Kanone.« Dann brach er in ein gackerndes Gelächter aus, in das die anderen Jungen mit einstimmten.
Wir verließen den Raum. »Ist das wahr?« fragte ich Cordelia.
»Pistolen und Messer sind hier verboten. Euclides versteckt sich bei uns. Er sagt, die Polizei will ihn umbringen. Angeblich hat er ein Huhn gestohlen. Aber wir glauben ihm nicht. Suzane, das Mädchen dort, meint, er hat jema n den erschossen, für Geld.«
»Ein zwölfjähriger Berufskiller?«
»Völlig richtig.«
»Und was machen Sie nun mit ihm?«
»Gar nichts. Wir behalten ihn hier. Die Kinder müssen wissen, daß wir für sie da sind, egal, was sie angestellt haben. Sonst hätten sie kein Vertrauen mehr zu uns. Eines Tages wird ihn die Polizei sowieso erwischen. Ich würde ja gern sagen, daß diese Kinder alle Engel sind, aber das sind sie leider nicht. Wir versuchen hier nur den Teufel s kreis der Gewalt zu durchbrechen.«
Cordelia seufzte und ließ zum erstenmal ihre innere Beteiligung erkennen. »Wissen Sie, was Euclides eines Tages werden möchte?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Polizist.«
A ls wir das Auto erreichten, war ich durchgeschwitzt, schmutzig und erschöpft. Außerdem war ich entsetzlich deprimiert.
»Sie wissen, daß Ihr Favela -Deal nichts daran ändern wird«, sagte ich. »Ein paar Straßen und ein bißchen Farbe auf den Hütten werden diesen Kindern nicht helfen.«
Isabel seufzte. »Ich weiß. Aber es ist ein Anfang. Und wir müssen irgendwo anfangen.« Durch die getönten Scheiben der Limousine blickte sie zurück auf den Hügel. »Ganz tief in ihrem Inneren wird die Seele dieses Landes von einer Krankheit zerfressen. Brutalität. Sie ist wie ein Virus, das von Generation zu Generation übertragen wird: vom Kind auf den Drogendealer auf den Polizisten aufs Kind. Cordelia behandelt die Symptome. Ich hoffe, daß I n itiativen wie das Favela -B airro-Projekt die Ursachen bekämpfen. Doch jedesmal, wenn ich Kinder wie Euclides sehe, würde ich am liebsten aufgeben. Manchmal frage ich mich, warum ich es nicht wie die schweigende Mehrheit mache und das Problem einfach verdränge. Aber das geht auch nicht. Wir müssen es versuchen. Wir müssen es, koste es, was es wolle, versuchen.«
Ich erinnerte mich an den hartgesottenen kleinen Jungen mit dem breiten Grinsen und versuchte mir auszumalen, was das Erwachsenendasein für ihn bereithielt. Wenn er es denn überhaupt bis dahin schaffte.
»Euclides ist ein ziemlich merkwürdiger Name für ein Kind, oder?«
»Brasilianer entwickeln in dieser Hinsicht eine erstaunliche Phantasie«, erwiderte Isabel, »besonders in den F avelas . Zu Cordelias Schützlingen gehört ein mageres, fünfjä h riges Bürschchen, das auf den Namen Marcos Aurélio hört.«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, obwohl ich deprimiert und zornig war nach dem Erlebnis in der Favela . Wie konnte ein vermeintlich so zivilisiertes Land wie Brasilien derartige Zustände hinnehmen? Wie war es mö g lich, daß so viele unglaublich reiche Menschen direkt neben schlimmster Armut lebten? Natürlich sind die Brasilianer nicht wirklich daran schuld. Wie Cordelia und Isabel versuchen viele, etwas dagegen zu tun. Aber ich war noch immer zornig auf sie und zornig auf mich, weil ich das a l les hinnahm wie sie. Aber was konnte ich tun? Was konnte irgend jemand dagegen tun? Ich sehnte mich zurück nach den einfachen Antworten meiner naiveren Vergangenheit.
Wir fuhren weg von der Favela , hinein in einen grünen Vorort mit weißen Häusern, die sich hinter hohen Mauern und elektronisch hochgerüsteten, schmiedeeisernen Toren versteckten.
»Ich bewundere Ihre Schwester«, sagte ich.
»Ich bewundere sie auch. Und ich liebe sie. Aber leider ist sie dumm. Entsetzlich dumm!«
Erstaunt blickte ich Isabel an. Ihre Wangen hatten sich gerötet. »Ich weiß, daß sie Gutes tut, viel Gutes. Aber irgendwann wird sie tot sein. Mein Gott, ich hoffe, sie gibt das Ganze auf, wenn das Baby da ist.«
»Glauben Sie, daß eines der Kinder sie umbringen wird?«
»Nein, keines von den Kindern. Aber sie ist ein lebender Köder für Kidnapper. Entführungen sind ein beliebter Volkssport hier in Rio. Und denken Sie an all das, was sie uns über Polizei und Todesschwadronen berichtet hat. Was meinen Sie wohl, wie die das finden, daß ihnen ihre Opfer entwischen?
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