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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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Ratschlägen, denn ich bin nicht sicher, mit meinen Empfehlungen schon am Ende zu sein. Zum Beispiel möchte ich für Ihren Besuch heute nachmittag den Vorschlag wagen, daß Sie sich eine grüne Perücke aufsetzen. Ich sehe gerade, daß Ihr Haar doch recht schwarz ist. Indes stelle ich diese Einzelheit in Ihr Ermessen. Ich möchte nicht zu weit gehen und Ihnen jede Initiative versagen. Andererseits ist die Verwendung einer grünen Perücke mit bestimmten Risiken verbunden, besonders in der hiesigen Gegend. Die Leute könnten Sie für einen Marsbewohner halten. Nach dem, was ich in den Zeitungen lese, soll es jeden Tag mehr Menschen geben, die felsenfest an solche Wunderdinge glauben. Vor allem hier auf dem Lande. Man hat die traditionellen Geheimnisse zerstört und dafür andere erfunden, die besser zu der Zeit passen, in der wir leben. Eine Frage der Mode, Bautista. Wer sagte noch gleich, daß sogar die Verbrechen der Mode unterliegen? Die Moden gehen vorbei, mein Freund, doch was fundamental ist, bleibt. Und jetzt meine ich mich zu erinnern – Sie sehen, auf welchen Wegen –, daß dies das Thema ist, das ich in der zweiten Hälfte des Briefes anschneide. »Sind Frösche und Zweige fundamental, lieber Graf?« Nehmen wir jetzt einmal an, Don Demetrio bringt es trotz meiner Vorkehrungen zuwege, die sieben Wörter zu entziffern, aus denen diese Frage besteht. Sieben mikroskopisch kleine und ohne Zwischenraum geschriebene Wörter, vergessen Sie das nicht, dazu noch die weggelassenen Konjunktionen und die getarnten Umlaute. Das heißt, nehmen wir einmal an, dem Herrn Grafen gelingt es zu lesen: » Sindfrischezweigefundamentalliebergraf ?« Ha! Ha! Man könnte sich ausschütten vor Lachen! Der getarnte Umlaut verändert, wie Sie sehen, beträchtlich den Sinn der Frage. »Potztausend!«, wird Don Demetrio voller Erstaunen ausrufen. »Was fragt mich da dieser sybillinische, konspirative Marquis, den ich schon seit Jahren tot glaubte? Steigt er aus dem Grab, um mich mit einer so läppischen Frage zu belästigen wie der, ob frische Zweige fundamental sind oder nicht?« Nichtsdestotrotz wird der arme Mann sich den Kopf zermartern und versuchen, eine Antwort zu finden, denn die Frage ist, im Grunde genommen, nicht einfach. Was würden Sie zum Beispiel antworten, Bautista? Meinen Sie, daß frische Zweige fundamental sind? Sie zucken die Achseln, natürlich. Eine Gebärde, für die die Menschen sich zutiefst schämen sollten. Strengen wir uns jedoch etwas an, analysieren wir die Frage von Grund auf. Sind frische Zweige fundamental? Grundsätzlich nicht, wie es scheint. Zweige ermangeln, für sich genommen, der Unabhängigkeit. Sie können nur aus einem Stamm wachsen, das heißt, aus einem Baum. Betrachtet man die Sache aber unter einem anderen Gesichtspunkt, dann könnte man wohl sagen, sie sind fundamental, denn ohne Zweige gibt es keine Blätter, und ohne Blätter würden die Bäume ihren größten Reiz verlieren. Welchem Spaziergänger könnte ein Baum ohne Blätter nützen, Bautista? Erst Blätter und Zweige machen die Bäume zu Bäumen, mein Freund, und dichtbelaubte Bäume sind die größten Liebhaber der Stürme. Es gibt indes ein weiteres Argument für die Fundamentalität der Zweige – wenn dieses Wort erlaubt ist. Passen Sie auf: Die Samen der neuen Bäume sind in den Früchten eingeschlossen, und die Früchte hängen an den Zweigen. Wir sind damit unversehens in die aristotelische Lehre von actu und potentia eingedrungen. Darum: wenn es keine Zweige gibt, gibt es auch keine Früchte, die an ihnen hängen, und wenn es keine Früchte gibt, gibt es auch keinen Samen, aus denen morgen neue Bäume entstehen können. Nehmen wir zum Beispiel die Waldeiche, meinen Lieblingsbaum. In der Eichel dieser Waldeiche lebt schon eine andere potentielle Waldeiche. Können Sie mir folgen? Jeder Zweig dieser Waldeiche ist also fundamental, denn ohne diesen Zweig gäbe es keine Eicheln, und ohne Eicheln gäbe es keine Eichenwälder. Wie? Was sagen Sie, Bautista? Daß die Waldeichen keine Eicheln tragen? Daß die Eicheln an den Steineichen wachsen? Hängen Sie doch nicht an solchen Kleinigkeiten, mein Freund, lassen Sie sich nicht anmerken, daß Sie ein hochgekommener Bauer sind. Ich habe Ihnen nur ein Beispiel genannt. Halten Sie sich nicht so eng an die konkrete Bedeutung der Wörter. Seien Sie etwas phantasievoller. Wenn wir von Bäumen sprechen, können wir in Wirklichkeit ganz andere Dinge meinen. Däumling ist sehr viel mehr als

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