Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
Vom Netzwerk:
seine Zähne. Schließlich ist er etwas jünger als Sie, vergessen Sie das nicht. Und was seine Entscheidung betrifft, sich in seinem Schloß zu vergraben, so hatte er seine Gründe, das können Sie mir glauben.« Nehmen wir einmal an, daß der Herr Graf zu wissen wünscht, welches diese Gründe waren. Wir könnten ihm Gründe in Hülle und Fülle liefern, das ist sicher, ich ziehe es jedoch vor, die Sache mit den Blutegeln anzuführen. Eine höchst symbolische Geschichte. »Vor zwanzig Jahren«, so erklären Sie ihm, »war mein Herr in der Stadt. Des Morgens, als er aus dem Hotel trat, fand er die Straße voller Blutegel. Schauerliche Kreaturen, groß und dick wie ein Männerarm, von dunkelgrüner Farbe. Einige krochen an der Bordkante entlang, ohne sich auf den Bürgersteig zu wagen. Andere hingegen waren die Straßenlaternen hinaufgekrochen, wo sie reglos verharrten, von ihren unteren Saugnäpfen gehalten, den Körper in die Luft gereckt. Meinen Herrn – so erklären Sie ihm weiter – überraschte die Gelassenheit, mit der die Leute dem Phänomen begegnest ten. Alle schienen an die Anwesenheit dieser monströsen Geschöpfe gewöhnt zu sein. Das Leben ging seinen normalen Gang. Die Geschäfte waren geöffnet (die öffentlichen Transportmittel waren in Betrieb), die Kinder liefen zur Schule und auf den Straßen umher, kurz, eine eilige Menschenmenge ging ihren Beschäftigungen nach. Mein Herr – so sagen Sie ihm weiter – gewahrte, daß Bekannte einander mit einem resignierten Lächeln grüßten, und daß alle (Alte, Erwachsene und Kinder) auf den Bürgersteigen liefen, wobei sie, an den Häuserwänden Schutz suchend, sich so weit wie möglich von der Fahrbahn (das heißt so weit wie möglich von den Blutegeln) entfernt hielten. Dieser Umstand – an diesem Punkt erklären Sie Don Demetrio, daß ich Ihnen die Geschichte viele Male erzählt habe und Sie sich deshalb so genau erinnern – dieser Umstand, so sagte ich, erzeugte bei den Fußgängern eine eigenartige Verwirrung, die sogar komisch hätte sein können, wäre sie nicht durch diese abscheulichen Kreaturen hervorgerufen worden. An einer Straßenecke stieß ein dicker Mann (einer dieser kurzsichtigen Jungwale, die meinen, die Welt gehöre ihnen) mit einem paketbeladenen Jungen zusammen (ein Ladengehilfe, dünn wie eine Zuckermandelstange). Infolge des Zusammenpralls stürzte der Junge und rollte an den Fuß einer Straßenlaterne. In Sekundenschnelle heftete der Blutegel seine Saugscheibe an die Wange des Milchbarts, ohne daß die Vorübergehenden versucht hätten, dies zu verhindern. Der Vorfall ereignete sich gegenüber einem Kolonialwarengeschäft (mein Herr erinnert sich ganz genau an diese Einzelheit), und zwei Minuten später (als der Junge schon das Bewußtsein verloren hatte), näherte sich der Besitzer des Ladens dem Ungeheuer und bestreute dessen Körper mit einem großen Paket Salz. Zwei andere Männer – der Dicke und noch einer – packten den Jungen an den Fußknöcheln, zogen ihn fort und befreiten ihn endlich von den Saugnäpfen. Sie können sich den Schrecken meines Herrn vorstellen, Don Demetrio – ergänzen Sie, nachdem Sie Atem geschöpft haben –, der diesem Drama voll Entsetzen beiwohnte. Er eilte in sein Hotel zurück, wo der Portier, der ihn eintreten sah, ihm einige Erklärungen zu geben wünschte. >Ich verstehe, daß Sie empört sind<, sagte er zu ihm. >Sie müssen jedoch wissen, daß diese Blutegel schon einen Teil unserer Gemeinschaft bilden. Wir sind so sehr an sie gewöhnt, daß es uns Mühe kosten würde, auf sie zu verzichten. Sie kommen, saugen sich voll Blut und verschwinden. Dann kommen wieder andere, und der Kreis beginnt von neuem. Am Anfang ernährten sie sich von einer gemischten Kost aus Schnecken, Insekten und Krustentieren, doch jetzt ziehen sie unser Blut vor.< Mein Herr hob angstvoll die Hände. >Und niemand wehrt sich?<, rief er aus. >Niemand protestiert? Niemand erhebt Einspruch?< Der Portier zuckte die Achseln. >Das Schlimmste ist<, fuhr er fort, >wenn man sieht, wie sie sich vor aller Augen fortpflanzen. Diese Viecher sind Hermaphroditen, sie haben nicht einmal ein eindeutiges Geschlechts Als mein Herr diese Worte hörte, so erzählen Sie weiter, fühlte er sich einer Ohnmacht nahe. >Sie können ab sofort über mein Zimmer verfügen<, sagte er. >Noch heute verlasse ich diese entsetzliche Stadt.< Und von da an beschloß er, zurückgezogen in seinem Schloß zu leben...« Das alles erklären Sie Don Demetrio,

Weitere Kostenlose Bücher