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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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den Brief entgegen, den Sie ihm reichen, und in der Ahnung, daß die Lektüre recht lange dauern wird, weist er Ihnen einen Lehnstuhl an und fordert Sie auf, sich zu setzen. Was sollen Sie in diesem Fall tun? Der Einladung Folge leisten? Sie mit einem höflichen, aber bestimmten Lächeln ablehnen? Ein schönes Dilemma. Ich persönlich würde Ihnen raten, sich nicht zu setzen und die ganze Zeit, die der Herr Graf mit der Lektüre des Briefes zubringt, stehenzubleiben. Letztendlich ist das die Haltung, die sich für einen Dienstboten in Anwesenheit seines Vorgesetzten am ehesten ziemt. Es gibt keine andere. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit dummem Geschwätz über die Französische Revolution, denn wir alle wissen, daß es keine Revolution gibt, die einen Götzen gestürzt hätte, ohne einen anderen auf den Thron zu heben. Die einzige Revolution, die mich beunruhigt, ist die der Zeit, die vergeht und damit unsere Aussichten, endlich glücklich zu sein, immer geringer werden läßt. Ich meine daher, daß Sie sich nicht setzen sollten. Doch Vorsicht, die Dinge sind nicht so einfach. Und wenn Don Demetrio nun gekränkt wäre, weil Sie eine Einladung ablehnen, die er in bestem demokratischem Geist an Sie gerichtet hat? Analysieren wir diese Frage in aller Nüchternheit, lassen wir nicht zu, daß die Leidenschaft uns blind macht. Stellen Sie sich vor, der Herr Graf bietet einer Person seines Standes einen Platz an, und diese, aus welchem Grunde auch immer, lehnt das Angebot ab. Was könnte in diesem Fall passieren? Nichts. Ein Fall von gegensätzlichen Ansichten unter Gleichen, nichts weiter. Wenn aber Sie es sind, ein Diener, der die Einladung ablehnt, dann ändert sich die Sache. Ihre Weigerung, Platz zu nehmen, käme einer Art Rebellion gleich. Denn Sie müssen wissen, mein Freund, daß es selbst in der Demut den Stolz gibt, nicht stolz zu sein. Sie verstehen mich. Personen Ihres Standes steht nicht einmal das Recht zu, gnädige Konzessionen abzulehnen. Sie müssen sie bereitwillig annehmen, mit einem Lächeln. Ich glaube nicht, daß sich die gesellschaftlichen Strukturen in all den Jahren so geändert haben. Ihre Lage wäre also recht heikel. Was tun? Ablehnen? Annehmen? Stehenbleiben? Platz nehmen? Sie sehen, wie sich die einfachsten Dinge komplizieren, sobald wir ihnen auf den Grund gehen. Kurz und gut, ich meine, ohne jetzt noch weitere Überlegungen anzustellen, Sie sollten, nachdem der Herr Graf Ihnen einen Lehnstuhl angeboten und sich in die Lektüre des Briefes vertieft hat, eine Zwischenhaltung zwischen Sitzen und Stehen einnehmen. Eine solche Haltung wäre am unverfänglichsten. Wären Sie aber dazu fähig? Und wären Sie selbst dazu fähig, könnten Sie dann eine oder zwei Stunden so verharren, alle Muskeln angespannt, wie ein Skifahrer, jedoch ohne Ski zu fahren? Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, besonders wenn wir bedenken, daß Sie ein Bein haben, das kürzer ist als das andere. Dieser Umstand würde die Dinge für Sie unzweifelhaft noch komplizierter machen. Kurz und gut, Bautista, bleiben Sie stehen, das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Lehnen Sie die Einladung, wenn sie erfolgen sollte, mit einem liebenswürdigen Lächeln ab. Führen Sie irgend etwas zu Ihrer Entschuldigung an, das Ihnen verbietet, sich zu setzen. Zum Beispiel ein Karbunkel am Allerwertesten. Oder ein Furunkel, was Sie lieber haben. Verharren Sie indes in der Haltung, zu der ich Ihnen am Anfang geraten hatte: aufrecht, den Blick auf den Boden geheftet, die Arme fest an beide Körperseiten gepreßt und die Hände halb geöffnet. Ihre Fingerkuppen müssen die Hosennaht berühren. Nicht mit der Starrheit und der martialischen Miene eines Soldaten, sondern vielmehr mit jenem halb ernsten, halb beflissenen Gesichtsausdruck, wie ihn die Maitres mancher Luxusrestaurants an den Tag legen. Gewiß, Sie haben niemals den Fuß in ein Restaurant der Spitzenklasse gesetzt, aber bemühen Sie doch Ihre Phantasie, versuchen Sie, sich diesen Ausdruck vorzustellen. Schauen Sie mich nicht so an, Bautista. Sie kennen mich gut. Ich bin ein vorsichtiger Mensch und kann den Ausgang eines Vorhabens, das mir am Herzen liegt wie kaum ein anderes, nicht dem Zufall und unvorhergesehenen Ereignissen überlassen. Bevor Sie sich heute nachmittag zum Schloß von Don Demetrio begeben, muß also alles wohldurchdacht sein. Wir müssen alle Alternativen untersuchen, alle Einzelheiten analysieren, ungeachtet der Tatsache, daß das Leben, wie ich vorhin sagte,

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