Der Marschenmörder
Frage. Er wehrt sich dagegen mit einer Relation, die weitere Ermittlungsmöglichkeiten offen lässt, und übergibt Bericht und Akten den Obergerichtsräten Dr. Mohrdieck und Dr. Schütt. Sie werden beauftragt, nach gründlicher Einarbeitung am 8. Mai mit der erneuten Untersuchung des Mordfalls zu beginnen.
Mit der Neuordnung des Justizwesens ändert sich auch der Typus des kleinstädtischen Amts- und Landrichters, des würdevollen Herren mit solider juristischer Bildung, des einem guten Essen und edlem Wein nicht abgeneigten Zigarrenrauchers von derb gesundem Menschenverstand und kritischem Vorurteil gegen die neue Obrigkeit. An seine Stelle tritt der ehrgeizige, karrierebewusste und schlecht bezahlte Staatsbeamte mit den preußischen Tugenden: Ordnung, Fleiß, Disziplin und grenzenlose Loyalität gegenüber Seiner allerhöchsten Majestät, dem König.
Diesem Bild entspricht Oberjustizrat Dr. Mohrdieck, während sein Kollege Dr. Schütt mehr den konservativen, jovialen, jede Entscheidung gründlich prüfenden Juristen alten Schlages verkörpert.
Beide aber sind einig in ihrer neuen Zielsetzung: Sie wollen die Justiz vor einer Riesenblamage bewahren. Sie wollen den Fall Thode klären.
„Es ist nicht zu fassen. Acht Monate lang wursteln die vor sich hin. Geben am Ende entnervt auf. Und nun sollen wir die Kastanien aus dem Feuer holen.“ Wahllos blättert Oberjustizrat Dr. Mohrdieck in einem der zahlreichen Aktenbände. „Eine Mörderjagd ohne Beispiel. Befragungen, Festnahmen, Verhöre, aber nicht die geringste Spur eines Erfolges. Wir müssen von vorn anfangen.“
„Nicht ganz“, versucht Dr. Schütt den erregten Kollegen zu beruhigen. „Rötger und Jacobsen haben nicht geschlafen. Die müssen Tag und Nacht auf den Beinen gewesen sein.“
Mohrdieck lacht höhnisch. „Genau. Tag und Nacht sind sie einem Phantom nachgejagt. Haben jedes Blatt, das vom Baum fiel, dreimal umgedreht. Nur den einzig Schuldigen haben sie mit Samthandschuhen angefasst.“
„Den Schuldigen?“ Verständnislos blickt Schütt von der vor ihm liegenden Akte auf. „Sie meinen, den jungen Thode?“
Mohrdieck nickt verdrossen. „Gerade zweimal haben sie ihn offiziell verhört. Ihm unbesehen das Märchen von der Mörderbande abgenommen. Und sich total verbissen in die Suche nach Tätern, die vom Himmel fallen, völlig sinnlos acht Menschen umbringen, den Hof abfackeln und sich anschließend in Luft auflösen.“
Er bemerkt, dass sein älterer Kollege ihn immer noch irritiert anblickt. Schlägt mit der flachen Hand auf die Akte. „Zweihundert Festnahmen, hundertneunzig Befragungen, endloser Papierkrieg mit Behörden und Gendarmerien. Sogar eine Kompanie Soldaten haben sie eingesetzt. Aber den alleinigen Nutznießer bringen sie bei einem Trottel von Gendarm unter, dessen Frau für ihre Kochkunst bekannt ist. Doch damit nicht genug. Seit Wochen lebt er, frei wie ein Vogel, bei einem Bauern in Sude. Mich wundert, dass sie ihm noch keine Freifahrt nach Amerika beschafft haben.“
Dr. Schütt springt auf. „Sie gehen zu weit, Herr Kollege. Der Wöhlers ist ein untadeliger, zuverlässiger Polizist. Und was unsere Vorgänger angeht, so haben sie sich sehr wohl Gedanken um den Thode gemacht. Haben das gesamte Umfeld befragt, sein Vorleben erkundet.“
„Ich bitte um Entschuldigung.“ Mohrdieck erkennt, dass er wieder einmal sein Temperament nicht zügeln konnte. Steht auf, legt die Hand auf die Schulter des Kollegen. „Ich weiß, die beiden haben geschuftet wie Ackergäule. Warum aber haben sie, als die Geschichte mit der Bande immer fragwürdiger wurde, sich nicht intensiver mit dem Burschen befasst?“
Fahrig sucht er in den Akten. „Hier. Die zweite Vernehmung. Unstimmigkeiten ohne Ende. Und immer wieder: ,Ich war in Panik. Ich weiß nichts.‘ Mit solchen Antworten gibt man sich doch nicht zufrieden.“
Schütt nickt verdrossen. „Stimmt. Stimmt alles. Aber schauen Sie sich den letzten Ermittlungsstand an. Seine Aussage ist durch kein Beweisstück, kein Indiz widerlegt. Natürlich ist er als Nutznießer verdächtig. Auch klingen seine Darstellungen abenteuerlich. Nennen Sie mir aber bitte einen einzigen Haftgrund.“
Mohrdieck seufzt. „ Ich weiß, das ist das Problem. Aber was sollen wir tun? Weiter nach Mördern suchen, die es definitiv nicht gibt? Und dann ergebnislos aufgeben wie die Itzehoer?“ Er zeigt auf ein umfangreiches Aktenstück: „Schauen Sie hier: Jagd auf die Besatzung der Harmonia,
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