Der Marschenmörder
missmutig auf Timm hinunter: „Geiht dat all wedder los?“
„Das wär’s denn wohl?“ Schütt steckt das Notizheft in die Innentasche seines Jacketts.
„Nicht ganz“, erwidert Mohrdieck. Er winkt Tietjens, der schwer atmend in der Tür steht, zu sich. „Sie haben umsichtig gehandelt. Meine Anerkennung. Wie geht es ihm?“
Der Wärter wischt sich den Schweiß von der Stirn, zuckt die Schultern: „Schwer zu beurteilen für einen Laien. Aber wenn Sie mich fragen: Verstellung ist das nicht. War verdammt schwierig, ihn ins Bett zu kriegen.“ Er versucht ein Lächeln. „Aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran.“
„Ich höre, Sie besitzen ein Pferd?“
„Ja. Felix. Einen Wallach. Sieben Jahr alt. Prächtiges Tier.“ Tietjens Stolz ist unüberhörbar.
„Dann bringen Sie mir mal die Gerte!“
Tietjens zögert: „Die Gerte?“
„Sehr wohl. Auch ein gutes Pferd braucht bisweilen die Reitpeitsche. Und ein störrischer Mensch allemal.“ Mohrdieck lehnt sich zurück. Macht, als Tietjens sich auf dem Weg zur Tür ratlos umblickt, eine Scheuchbewegung. „Nun gehn Sie schon!“
„Aber, Herr Kollege! Sie wollen doch nicht etwa …“ Schütt hat Mohrdiecks Unterarm ergriffen. „Das kann Sie Ihr Amt kosten.“
„Mein Amt?“ Mohrdieck lächelt überlegen, zieht aus der Jackentasche ein gefaltetes Blatt. „Schauen Sie. Unser Einsatzbefehl.“ Er fährt mit dem Zeigefinger über die Zeilen. „Hier steht’s: In freiem Ermessen sind sie bemächtigt, gegen Jedermann zu verfahren. Und nun verfahren wir in freiem Ermessen gegen den Thode.“
Voll bekleidet liegt Timm auf dem harten Eisenbett. Flach atmend. Die Augen geschlossen.
„Soll ich versuchen, ihn zu wecken?“ Tietjens tritt an das Bett heran.
„Lassen Sie nur. Er wird nicht reagieren.“ Mohrdieck beugt sich über den Liegenden. Streichelt mit der Kuppe des Zeigefingers dessen Wimpern. „Seh’n Sie genau hin.“ Unbewusst hat er die Stimme gesenkt. „Haben Sie’s bemerkt? Er blinzelt.“
Mohrdieck streckt sich. „Geben Sie mal her.“ Tietjens reicht ihm die Gerte.
Schütt hebt abwehrend die Hand, beugt sich über Timm: „Herr Thode, hören Sie mich? Falls Sie simulieren, ist dieses zwecklos. Antworten Sie bitte.“
Timm öffnet leicht den Mund. Doch es kommt ihm kein Laut über die Lippen, und die Augen bleiben geschlossen.
Mohrdieck schiebt den Kollegen sanft zur Seite. Und schon saust die Peitsche auf Timm herab. Trifft ihn quer über den Oberkörper, von der Schulter bis zur Hüfte.
Ruckartig setzt der Gepeinigte sich auf. Blickt Mohrdieck mit offenem Mund und geweiteten Augen an: „Wa’, was soll das?“
„Tscha, lieber Thode, wir wollten Sie nur aus Ihrer Ohnmacht befreien. Mit einem probaten Mittel.“ Mohrdieck lächelt süffisant. „Dazu bedarf es offensichtlich keines Arztes.“ Dann fährt er, wieder ganz der Ermittler, fort: „Ich frage mich nur: Wie konnten Sie das dreißig Stunden lang durchhalten? Damals in Schwarzkopfs Haus?“
„Das war echt“, stammelt Timm, „da war ich wirklich …“
Mohrdieck lässt nicht locker. „Sicher. Nach allem, was auch immer vorgefallen war, haben die Kräfte Sie verlassen. Sie waren völlig erschöpft. Aber dreißig Stunden durchgängig ohne Bewusstsein waren Sie nicht. Hatten wache Momente. Und haben etwas mitbekommen. Zum Beispiel, dass einige Leichen vom Feuer fast unversehrt blieben. Mit entsetzlichen Verletzungen.“
Heftig schüttelt Timm den Kopf. „Nein, nein. Ganz gewiss nicht. Das alles hab’ ich hinterher erfahren.“
Schütt tritt ans Bett, legt die Hand auf Timms Schulter. „Herr Thode. Es macht keinen Sinn, uns zu belügen. Sie sehen doch, wir kommen dahinter. Wollen Sie uns nicht endlich die volle Wahrheit sagen?“
22
Unermüdlich suchen Mohrdieck und Schütt nach weiteren Indizien. Wieder und wieder studieren sie die Akten, das Fundament, auf dem sie ihre Ermittlungsarbeit aufbauen. Ihr Interesse gilt vor allem den penibel protokollierten Vernehmungen sowie den Erkenntnissen, die ihre Vorgänger aus ungezählten Befragungen gewonnen haben. Wo sie Informationslücken entdecken, haken sie nach, laden erneut Zeugen vor, forschen nach in Timms Umfeld und Vergangenheit.
Außer Acht lassen sie die von Rötger und Jacobsen landesweit betriebene Suche nach der Mörderbande. Das wirft bei den Recherchen bisweilen Probleme auf.
„Se fragt bloots noch na Timm“, tuscheln sich die Beidenflether zu. „Un de Mörders laat se loopen.“
Auftrieb für die
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