Der Marschenmörder
Stunde lang vor der Zellentür und entfernt sich erst, als er Timm schnarchen hört.
Zur selben Zeit sitzen die Ermittler in „Kern’s Weinstube“, dem vornehmsten Lokal der Stadt, bei einem guten Tropfen. Gemächlich stopft Schütt seine Tonpfeife, während Mohrdieck seinem einzigen Laster frönt, dem Schnupftabak. Aufgeräumt prostet er seinem Gegenüber zu: „Ist doch bestens gelaufen. Er sitzt auf Nummer sicher, bis wir ihn festnageln können.“
„Bislang hat er nur geleugnet“, wendet Schütt ein, „und wenn er sich weiterhin so verhält, nützt unsere ganze Taktik nichts.“
„Er wird sich verplappern. Warten Sie’s ab. In zwei, drei Wochen haben wir ein Geständnis.“
„Daran hängt alles“, sinniert Schütt. „Es gibt keine Beweismittel. Und einen Indizienprozess können wir uns nicht leisten. Da haut ihn jeder Winkeladvokat in kürzester Zeit heraus.“
Mohrdieck bleibt zuversichtlich. „Wir rollen die Sache von hinten auf. Als Nächstes konzentrieren wir uns auf seine Ohnmacht bei Schwarzkopf. Die war garantiert gespielt.“
Schütt reibt mit Daumen und Zeigefinger seinen Spitzbart. „Der Dreessen hat eigens einen Kollegen zugezogen, den Dr. Goetze aus Itzehoe. Und der ist ein verdammt guter Fachmann. Beide können sich doch nicht dermaßen von einem Bauernjungen hinters Licht führen lassen.“
„Wir werden ein schriftliches Gutachten anfordern. Von beiden. Und Tietjens wird seine Einquartierung sorgsam beobachten und uns berichten. Zur Not ziehen wir auch den Bockendahl hinzu.“
Überrascht hebt Schütt den Kopf. „Den Kieler Professor. Gute Idee. Der beste Experte, den wir haben. Der wird schnell herausbekommen: raffinierte Verstellung, unbeeinflussbarer Automatismus oder psychische Anormalität. Letzteres könnte dem Thode gar den Kopf retten.“
Abwehrend spreizt Mohrdieck die Hände. „Das hätte noch gefehlt. Nein, nein. Ich tippe auf Verstellung. Und gerade darauf sind Rötger und Jacobsen hereingefallen. Gründlich.“
„Wir übereilen nichts. Gehen systematisch vor. Holen vor jeder weiteren Vernehmung Informationen ein. Da mögen die Glückstädter noch so drängen.“ Entschlossen schiebt Mohrdieck ein Schreiben beiseite, in dem das Obergericht die Commission ermahnt, den Fall Thode zügig zu Ende zu bringen. „Mit unser’n Vorgängern hatten sie unendliche Geduld. Und plötzlich haben sie es eilig. Wollen die Sache erledigt haben, bevor der Laden zugemacht wird.“
Schütt nimmt das Blatt zur Hand. „In der Tat. Sie versuchen Dampf zu machen. Uns unter Druck zu setzen.“
Er weiß, dass am 1. September, wenn das Preußische Justizgesetz in Kraft tritt, das Obergericht in Glückstadt aufgelöst wird. „Kein Grund, die Dinge übers Knie zu brechen“, befindet er. Denn er ist mit dem Kollegen einig, dass der Thode nicht so schnell mit einem Geständnis herausrückt.
Vier Tage haben sie ihn schmoren lassen. Und mussten beim zweiten Verhör feststellen, dass Timm, dickköpfig und verbissen, bei seinen Angaben blieb.
„Sagen Sie uns endlich aufrichtig, was mit Ihren Eltern und Geschwistern geschehen ist“, forderte Mohrdieck ihn mehrmals auf.
Timm: „Daran bin ich unschuldig. Ich kann gut schlafen.“
Eine Lüge, denn um Timms Schlaf ist es schlecht bestellt. Nicht seine Untaten rauben ihm die Ruhe. Ihn ängstigt die kühle Überlegenheit, die messerscharfe Logik, mit der ihn die Herren Oberräte durchschauen. Und ihn peinigt die graue Eintönigkeit des Gefängnisalltags. Von Natur ein Einzelgänger, vermisst er dennoch die belanglosen Gespräche mit dem Suder Bauernvogt und die wortkargen Abende nach getaner Arbeit in der geräumigen Küche des Thode-Hofes.
Instinktiv spürt er, dass Tietjens ihn belauscht. Und gestern Abend, als er wieder leises Tapsen jenseits der Eisentür vernahm, hat er trotzig und lauthals gesungen:
Güstern abend weer Vedder Michel hier,
Vedder Michel, un de weer hier.
He danz den Saal wull op un dal
un stött mit‘n Kopp an’n Lüchterpahl.
Güstern abend weer Vedder Michel hier,
Vedder Michel, un de weer hier.
Dass er Anna das Liedchen, das sie oft beim Abwaschen sang, abgelauscht hat, kommt ihm nicht in den Sinn.
„Das könnte uns weiterbringen.“ Mohrdieck hat im Postkorb die angeforderten ärztlichen Gutachten entdeckt, reißt die Umschläge auf, liest. Dr. Dressen weist in dem an die verehrliche Untersuchungs-Commission gerichteten Schreiben erst einmal darauf hin, dass er am Morgen des 8. August als
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