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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Brorsen
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Hausarzt zu einem Bewusstlosen gerufen wurde. Und nicht etwa, um festzustellen, ob irgendwelche Symptome auf Verstellung hingewiesen hätten. Zum Thema Simulation stellt er abschließend fest:
    Ich glaube behaupten zu dürfen, dass der Zustand wahr und natürlich gewesen ist und dass dafür mehr Momente sprachen als für Simulation.
    Auch Dr.   Goetze betont zunächst, dass er zwar von seinem Kollegen aus Beidenfleth hinzugezogen worden sei und den Patienten mehrfach untersucht habe, die Untersuchung aber nicht gerichtlich angeordnet worden sei. Und dass er deshalb eine Bewertung lediglich vom ärztlichen Standpunkt abgeben könne:
    Keineswegs habe ich mich berechtigt gefühlt, die Beobachtungen als Simulation zu werten. Waren doch die Ereignisse der vorangegangenen Nacht grausiger Natur und konnten begreiflicherweise so unerhört gewesen sein, dass auffällige Erscheinungen des Hirnlebens die notwendige Folge waren. Den Hauptinhalt der Untersuchung habe ich Dr.   Rötger mitgeteilt und kann auch jetzt kein Urteil geben, ob Timm Thode simuliert hat.
    „Eine schwammige Aussage, die eher für den Thode spricht“, stellt Mohrdieck leicht verärgert fest und reicht Schütt das Schreiben.
    „Stimmt“, bestätigt dieser, „aber bedenken Sie, die Lage war anders als heute. Da lag ein gerade einem schrecklichen Tod Entronnener vor der Tür. Und wir haben es mit einem mutmaßlichen Brandstifter und Massenmörder zu tun.“
    *
    „Sie kommen allein?“ Mohrdieck geht auf den Gefängniswärter zu, der in strammer Haltung an der Tür verharrt. „Wo ist Ihr Hausgast?“
    „Es ist mir leider nicht gelungen, ihn zum Aufstehen zu bewegen, Herr Obergerichtsrat. Er jammert über Kopfschmerzen, Atemnot, Schwäche.“
    „Soso. Atemnot und Schwäche.“ Mohrdieck weist auf den Besucherstuhl. „Setzen Sie sich doch. Einen Arzt gerufen?“
    Zaghaft nimmt Tietjens Platz. „Der Herr Professor aus Kiel, der ihn seit einigen Tagen beobachtet. Er hat dem Thode Tropfen gegeben. Und Essigumschläge verordnet. Nachdem der aus dem Bett gefallen war.“
    „Aus dem Bett gefallen?“
    „Gestern abend. Ich hab’s erst bemerkt, als ich ihm das Essen brachte. Er lag vor dem Bett. Die Augen zu. Schaum vor’m Mund. Und steif wie eine Holzpuppe. Nur mit Hilfe meiner Frau und meines Sohns konnte ich ihn ins Bett zurückschaffen.“
    „Moin, die Herren!“ Schütt, penibel gekleidet und leicht nach Eau de Cologne duftend, setzt sich an den Schreibtisch, schaut sich um. „Nanu? Wo bleibt unser Inculpant?“
    „Der befindet sich zurzeit in nicht vernehmungsfähigem Zustand.“ Mohrdieck gibt sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu verbergen. „Hoffentlich dauert es nicht wieder dreißig Stunden.“
    Schütt hebt die Augenbrauen. „Sie glauben, er simuliert? Etwa aus Angst vor der Vernehmung?“
    „Ich bin nicht sicher. Würde es aber gern auf einen Versuch ankommen lassen. Was meinen Sie, Tietjens, können wir’s probieren?“
    Der Gefängniswärter drückt den Rücken durch. „Seine Anfälle sind heftig, geh’n aber schnell vorbei. Im Lauf’ der Nacht ist er noch dreimal aus dem Bett gefallen. Ich konnte ihn aber allein bearbeiten. Und zwischendurch hat er das Abendbrot verzehrt. In aller Ruhe.“
    „Soso. Vier Anfälle in zwölf Stunden. Aber bloß keine Mahlzeit versäumen.“ Mohrdieck greift nach Stock und Zylinder. „Ich guck ihn mir mal an. Vielleicht hat er grad ’ne Erholungsphase. Kommen Sie mit, Herr Kollege?“
    Schütt zögert. „Für die Visitation reicht einer. Aber, Sie haben Recht. Eventuell können wir ihn vor Ort vernehmen.“
    Tietjens springt auf: „Ich würde Ihnen gern mein Wohnzimmer zur Verfügung stellen.“
    „Darf ich den Herren einen Kaffee anbieten?“ Mit devoter Freundlichkeit begrüßt Annelene Tietjens die Commission.
    Mohrdieck nickt: „Sehr freundlich von Ihnen. Aber erst einmal schaun wir uns den ,Patienten‘ an.“
    „Hören Sie was?“ Tietjens, der vorangegangen ist, bleibt stehen. Schaut zurück. „Ich glaube, er singt.“
    Leise nähern sich die Männer der Zellentür. Nun ist es deutlich zu vernehmen:
    Güstern abend weer Vedder Michel hier.
    Vedder Michel, un de weer hier.
    He nehm de Frunslüüd bi de Snuut
    un danz mit ehr to de Huusdör ruut.
    Güstern abend …
    Der Gesang bricht ab. Timm spürt, dass jemand sich der Tür nähert. Wirft sich aufs Bett. Schließt die Augen.
    „Singen Sie nur weiter, lieber Thode. Gesang erquickt des Menschen Herz.“ Maliziös blickt Mohrdieck

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