Der Maskensammler - Roman
überlegte, ob sie sich darüber freuen sollte, sah er auf die Uhr: «Oh Gott, es ist schon spät. Ich muss in die Uni. Komm doch zu Wickenburg ins Proseminar! Am besten gleich morgen um fünfzehn Uhr. Raum 203.» Und als er Ursulas fragenden Blick sah: «Du hast dich nicht eingeschrieben, o.k. Aber das macht nichts, ich werde dich reinschleusen. Mach’s gut!»
Ursula war nicht gewöhnt, über ihre Stimmungen nachzudenken. Aber Phillips Bemerkung über ihre Jacke gab ihr das Gefühl, hier fehl am Platz zu sein. Sein Vortrag über die Schönheiten von München kam ihr plötzlich altklug und belehrend vor, und von seinem abrupten Abgang war sie enttäuscht. In Birkenfeld hätte man sich wenigstens die Hand geschüttelt und «Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen» gesagt.
Sie verspürte Heimweh, einen Anflug nur, ein ihr unbekanntes Ziehen in der Brust. Fest klemmte sie sich die Kolleghefte unter den Arm, sie musste sich jetzt Bewegung verschaffen. Mit schnellen Schritten lief sie auf die Türme der Kirche zu, über deren Fassade sie ja jetzt Bescheid wusste.
***
In einer Einkaufsstraße blieb sie vor einem Schuhgeschäft stehen, schaute in die Auslagen und konnte es nicht glauben: In einem Bett aus Silberfolie lagen da Schuhe in allen Farben, zierliche Gebilde, zeigten ihre Sohlen aus feinem Leder, schwebten mit Pailletten bestickt an unsichtbaren Fäden wie Paradiesvögel von der Decke herab, öffneten ihr Innenfutter einladend dem Blick der Passanten. Eine Frau blieb neben ihr stehen. Sie trug solche Schuhe, vorne spitz, mit hohen Absätzen und um den Knöchel ein Riemchen mit einem goldenen Verschluss. Sie wiegte sich in den Hüften, zögerte unentschlossen und ging dann weiter.
Ursula betrachtete ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Die da stand, war eine aus der Provinz. Das sahen die Leute ihr an wie einen Makel, den sie nicht verbergen konnte. Sie hob die Fersen und versuchte, ein paar Schritte auf den Fußspitzen zu gehen. Der Versuch misslang. Ihre Schuhe mit den breiten Kreppsohlen quietschten auf den Steinplatten des Bürgersteigs.
Die Modebeilagen der Lokalzeitung, die die Mädchen in ihrer Klasse aufgeregt durchblätterten, hatte sie keines Blickes gewürdigt. Katrin hatte ihr Kleider aus einem Stoff genäht, der lange hielt und auf dem man nicht jeden Flecken sah. Der Schnitt des Rockes spielte für Ursula keine Rolle, wenn er nur nicht zu eng war und übers Knie ging. Blusen waren einfarbig weiß oder hellblau, pflegeleicht, sodass man sie mit Kernseife waschen und auf einem Bügel trocknen konnte. Man sprach nicht von Kleidung, sondernvon Anziehsachen, und wenn diese frisch gebügelt waren und man die Nähte von der letzten Änderung oder die geflickten Stellen nicht sah, brauchte man sich nicht zu genieren.
Ursula genierte sich. Hier in der Stadt galten Regeln, an die sie sich erst gewöhnen musste. Schuhe sahen aus wie Schmetterlinge und kosteten so viel wie ihr Monatsbudget. Allein durch das Labyrinth der Straßen zu laufen, hatte sie sich abenteuerlich vorgestellt. Aber jetzt wollte sie nicht auffallen, nicht durch ihre Größe, nicht durch ihren fremden Dialekt, nicht durch ihre Ortsunkenntnis und schon gar nicht durch ihre Holzfällerjacke und die quietschenden Sohlen. In einem Ausgabenheft würde sie ausrechnen, was sie sich leisten konnte. Ein Paar Sandalen mit Bändern bis über die Knöchel musste drin sein.
***
Überpünktlich betrat Ursula das Universitätsgebäude durch den Haupteingang. Aus der Tiefe eines Korridors schlug ihr kühle Luft entgegen. Raum 203. Ging es hier lang? Da war niemand, den sie hätte fragen können. Zwei Frauen, die etwas Verstörtes im Blick hatten, kamen ihr im Laufschritt entgegen und hasteten an ihr vorbei, noch bevor Ursula sie ansprechen konnte. Sie folgte einem Schild «Sekretariat», zwang sich langsam zu gehen, um nicht auch in eine Art Laufschritt zu verfallen, und blieb vor einem schwarzen Brett stehen. Sie hatte ja Zeit. Dutzende Zettel mit dem Aufdruck «Hinweis» oder «Ankündigung», mit Stempel und einem Unterschriftsschnörkel versehen, hingen da mit Nadeln aufgespießt, einige waren abgefallen oder lagen abgerissen am Boden. Ein Blatt fiel durch seinen roten Rand auf. «Genossen» stand da in einer schwungvollen Handschrift zu lesen und war die Einladung zu einem «Kongress». Ursula sah die vielen Ausrufezeichen, war aber zu aufgeregt, den Text zu lesen.
Im Sekretariat blieb sie an der Tür stehen. Die Tische waren nicht
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