Der Maskensammler - Roman
vorbestraft, aber die Ärztekammer hatte ihm die Approbation entzogen. Er musste seine Praxis in bester Lage aufgeben, die hübschen Helferinnen entlassen, das Inventar wurde zwangsversteigert. «Zwangsversteigert! Stell dir das vor! Mein Schreibtisch, an dem einst Robert Koch seine Rezepte ausstellte, der Paravent, hinter dem die Damen der besten Gesellschaft sich für die Untersuchung frei machten, der Besteckkasten, der mich um die halbe Welt begleitet hat – alles futsch.» Jetzt bot Ulrich seine Dienste als Heilpraktiker in Hinterhofräumen an, die vorher an eine Dampfwäscherei vermietet waren.
Nach der zweiten Kanne Tee, den Ulrich in seinem Glas mit einem Schuss Rum aufbesserte, war alles gesagt. Nun wollte er Bernhards Zimmer sehen. Er inspizierte die Pillenschachteln und Fläschchen auf dem Nachttisch, schüttelte missbilligend den Kopf und sagte: «Alles teures Zeug, das sein Geld nicht wert ist», und fuhr – nach einem Blick auf die in den letzten Sonnenstrahlen aufglühenden Berge – fort: «Ach, fast hätte ich’s vergessen! Ich habe dir was mitgebracht.» Aus der Manteltasche zog er ein Buch mit dem Titel: «Die Magie des zweiten Gesichts – Masken aus Bali, Java und dem Malaiischen Archipel». Dann ein nochmaliger Versuch, Bernhard zu umarmen. «Du musst unbedingt nach Berlin kommen. Die Stadt kocht, eine Revolution bahnt sich an. Kundgebungen, Protestmärsche. Ich erkenne die Zeichen der Zeit und behandle jeden kostenlos, der für die Freiheit kämpft.»
***
Das Buch war eine Einführung, kenntnisreich und anschaulich geschrieben. Nachdem er sich vom Besuch des Freundes erholt und sich die durch dessen Redeschwall ausgelöste Nervosität gelegt hatte, las er es in einer Nacht. Am nächsten Morgen bestellte er sechs von den im Literaturverzeichnis aufgeführten Titeln zur Lieferungins Sanatorium. Getrieben von dem Wunsch, endlich alles über die Bedeutung von Masken zu erfahren, verschlang er einen nach dem anderen, machte sich bei der Lektüre Notizen zu Erscheinungsformen, zur Verbreitung und historischen Einordnung von Masken, vermerkte Widersprüchlichkeiten, setzte Fragezeichen hinter Schlussfolgerungen, überprüfte Quellen auf der Suche nach Fehlern, vereinheitlichte Schreibweisen, korrigierte Jahreszahlen, entdeckte Querverbindungen und wusste – nachdem er weitere Bände bestellt und Seite für Seite durchgearbeitet hatte – mehr über Masken als die einzelnen Verfasser, die jeweils nur einen Aspekt im Blick hatten.
Wenn er mit verschränkten Beinen inmitten der aufgeschlagenen Bände saß, schien es ihm, als begännen die abgebildeten Masken zu sprechen, mit leeren Augen und hohlen Mündern versprachen sie ihm Schutz und gaben ihm ihre Geheimnisse preis. Wie ein Mantra murmelte er dann wieder und wieder einen Satz, der als Motto einem der Bände vorangestellt war: «Vor der Maske das Lärmen der Welt, hinter der Maske die Stille.» Jetzt wurde ihm leuchtend klar, was nur eine Ahnung gewesen war: Alles ist vorläufig, Masken aber sind endgültig, sie stehen für das Unabänderliche.
Später am Abend, wenn die anderen Patienten in den Etagen unter ihm vor dem Einschlafen noch ein paar Seiten in einem aus der Sanatoriumsbibliothek entliehenen Roman lasen, repetierte Bernhard halblaut die javanischen Namen, die er aus Erzählungen des Wayang, des Figuren- und Schattentheaters oder des Wayang wong, der Maskentänze, in ein Vokabelheft übertragen hatte. Er versuchte, sich an den melodiösen Singsang dieser sanften Sprache zu erinnern, die Stimmlage vor den Konsonanten zu verändern, verlor sich aber immer wieder im Irrgarten der Vokale. Abschließend notierte er: «Es ist auffällig, dass die Häufung eines Vokals in einem Namen Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Figur zulässt.Drei A’s verleihen Würde und Ansehen, vier Kraft und Kampfesmut. An I’s im Namen einer Frau erkennt man ihre Schönheit, die zarte Unschuld ihrer Gestalt. Mehrere O’s verraten einen kaltblütigen und verschlagenen Charakter. Kurze Namen zeugen von Jugend, ein A in der ersten und das elegante Ji in der zweiten Silbe von Tatkraft und edler Herkunft. Gerne würde ich herausfinden, wie es sich mit dem E und dem U verhält, die beide in Eigennamen selten vorkommen.»
Schläfrig rieb sich Bernhard die Augen. Er schlug eines seiner Bücher an einer beliebigen Stelle auf. Die Rede war von einem Giganten, «groß wie ein hoher Berg. Seine Augen leuchten wie Sonnen. Zwischen den buschigen Brauen ragt seine
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