Der Maskensammler - Roman
einem Schiff, auf einer Reise mit unbekanntem Ziel. Und wieder fing er an, Hände zu zeichnen, alte Hände, auf deren Knochengerüst wie dicke Würmer die Adern lagen. Aber er tat es nicht mehr mit Eifer, die Zeichnungen gerieten zu Karikaturen.
Nach den Anwendungen, die ihn den Vormittag über beschäftigten, und einem mittäglichen Rohkostbuffett, das mit der Empfehlung serviert wurde, jeden Bissen mindestens drei Minuten zu kauen und ihn dabei reichlich mit Speichel zu durchsetzen, zog Bernhard sich, am Ende seiner Kräfte, in sein Zimmer zurück, ließ sich aufs Bett fallen oder betrachtete sich lange im Spiegel, als könnte er so den Mann hinter den erstarrten Zügen entdecken, den er nie wirklich kennengelernt hatte. Er sah in ein blasses, fast faltenloses Gesicht, dessen trockene Haut über den Wangenknochenspannte; er sah müde, tief in ihren Höhlen liegende Augen, die ihn erstaunt betrachteten. Er skizzierte sie mit einigen Strichen, hielt sich nicht lange mit der Nase auf, die ihn an die Nase seines Vaters erinnerte, und versuchte, die Weichheit des Mundes zu treffen, ohne den Zug von Enttäuschung zu unterschlagen, der sich in den Winkeln eingenistet hatte. Er datierte seine Zeichnungen nicht. Aber als Ursula sie später sichtete, konnte sie sie mühelos in eine zeitliche Folge bringen. Erst zeigte sich ein Schatten, dann eine Art Flaum, schließlich ein stacheliger Bart im Gesicht ihres Vaters.
***
Bernhard dachte an Ursula. Nicht mit der Vertrautheit eines Vaters, sondern wie man an jemanden denkt, mit dem man ein Geheimnis teilt. Er wollte ihr schreiben. Um sich zu erkundigen, aber nach was? Er war nicht besorgt, und es gab keinen Rat, den er ihr hätte geben können. Er musste den richtigen Ton finden. Es durfte nicht so klingen, als wolle er sich einmischen oder sie gar kontrollieren. Es sollte ein Gruß, ein Lebenszeichen sein, mehr nicht. Vielleicht würde er ihr eine Ansichtskarte vom Hausberg mit der markanten, schroff abfallenden Nordwand schicken.
Er erinnerte sich an den einzigen Brief, den er je an seine Schwester geschrieben hatte. Sie war während der großen Ferien in einem Schülerlandheim, er hatte sie gefragt: «Wie geht es Dir?» und wie um ihre Antwort vorwegzunehmen «Mir geht es gut» hinzugefügt. Diese beiden Sätze gingen ihm jetzt durch den Kopf, weiter kam er nicht. Der Brief, den er nicht schreiben konnte, hätte aus einem Bekenntnis bestanden: «Du fehlst mir.» Noch nie hatte er einen solchen Satz einem anderen Menschen gegenüber geäußert.
Während die anderen Patienten unter Langeweile litten, fühlte sich Bernhard desto wohler, je eintöniger die Tage im Sanatoriumabliefen. Auf die Minute genau hielt er sich an den vorgeschriebenen Stundenplan, als hätte er immer schon nach den Regeln einer Kur mit Gymnastik, Massagen, Tautreten, Schwitzbädern und Ruhepausen gelebt. Für ihn waren sie kein beengendes Korsett, sondern eine Stütze, die ihn davor bewahrte, in einem Meer von Beliebigkeiten zu versinken. Die Ärzte stellten fest, dass sich sein Allgemeinzustand schnell besserte, aber weder sie noch er selbst erwogen, seinen Aufenthalt abzukürzen.
***
In dem Einerlei des Sanatoriumsalltags verlor Bernhard jedes Interesse für Zeit. Als Ulrich unerwartet seinen Besuch ankündigte, hätte Bernhard nicht sagen können, ob dieser noch in die zweite oder bereits in die dritte Woche seines Aufenthaltes im «Zwischenreich» fiel. Auch gelang es ihm nicht, sich auf den alten Freund zu freuen.
Der Mann, der dann irgendwann im Eingangsbereich stand und ein Plakat durch eine Klappbrille betrachtete, das für den Auftritt eines Zauberkünstlers warb, hatte die schäbige Eleganz eines Varietéansagers. Bernhard schüttelte ihm die Hand und hätte sich nach Ulrichs missglücktem Versuch, ihn an die Brust zu drücken, am liebsten gleich wieder in sein Zimmer zurückgezogen.
Noch bevor sie zwei freie Sessel gefunden und Tee bestellt hatten, begann Ulrich von den Schicksalsschlägen zu berichten, die ihn getroffen hatten: Er war in einen «Vorfall» verwickelt und ausgerechnet von der Mutter des Mädchens, dem er hatte helfen wollen, angezeigt worden. Er nannte Personen, die aus reiner Missgunst gegen ihn ausgesagt hatten. Der Prozess war von der Boulevardpresse aufgegriffen und er mit vollem Namen als «Abtreiber» an den Pranger gestellt worden. Sein Anwalt hatte ihn vor einer Gefängnisstrafe bewahrt, ihm aber seine ganzen Ersparnisseabgenommen. Nein, er galt nicht als
Weitere Kostenlose Bücher