Der Maskensammler - Roman
Lehre. Sie musste Karteikästen ordnen, tagelang Zahlenkolonnen zusammenrechnen und dem Chef auf die Minute genau den Kaffee bringen. Zweimal im Monat hatte sie Unterricht in der Berufsschule, jeweils von 18 bis 21 Uhr. Da durfte sie bei der alten Hanni übernachten. Auf dem Weg zu deren Wohnung blieb sie vor Schaufenstern stehen und horchte auf die Musik, die aus denoffenen Türen der Gaststätten drang: «Wenn ich nur wüsst’, wer mich geküsst, um Mitternacht am Lido …» – Sie wusste nicht, wo das war. Aber «Lido» klang nach einem Ort weit weg. Mit einem der Rüpel aus ihrer Klasse hätte sie dort nicht sein wollen. Sie stellte sich einen eleganten Mann vor, der aussah wie ein Filmschauspieler. Der erzählte ihr Geschichten von der großen, weiten Welt und durfte sie küssen, wenn die Turmuhr Mitternacht schlug. Das waren für sie die schönsten Abende.
Im zweiten Jahr fiel sie Herrn Schäfer, dem Mitinhaber der Firma, durch Fleiß, ihre Gewissenhaftigkeit und eine leichte Röte auf ihren Wangen auf, wenn sie die Kaffeetasse vor ihn hinstellte, «Zucker?» fragte und einen Spritzer Sahne zutat, genau wie es nach seinem Geschmack war. Wenn er hinter ihr stand, um ihr prüfend über die Schultern zu blicken, fielen ihm die feinen blonden Härchen in ihrem Nacken auf. Er übertrug ihr die Auswertung der Stechuhr und erhöhte ihr Lehrgeld um zwanzig Mark. Im dritten Jahr durfte sie seine Sekretärin vertreten, wenn diese Urlaub hatte oder wegen Krankheit fehlte.
Von der Zeit in der Großhandlung blieb Maria ein Foto von ihrem Chef, aufgenommen auf einem Betriebsausflug in den Tierpark. Im Hintergrund sah man das Affenhaus. Im Vordergrund stand ein tadellos gekleideter Mann unbestimmbaren Alters mit Rechtsscheitel, der gönnerhaft den Arm auf ihre Schulter gelegt hatte. Sein wie mit einem Lineal gezogener Mund versuchte, der Situation angemessen zu lächeln.
Das Lieblingswort von Herrn Schäfer war «ordentlich». Er verlangte ordentliche Kleidung, selbst von den Packern ordentliche Manieren, bei Dienstschluss einen ordentlich aufgeräumten Arbeitsplatz, und er erwartete, dass seine Angestellten in seiner Gegenwart ordentlich, das heißt nicht im Dialekt, sprachen. Maria durfte auf Fragen nicht mit einem kargen «Ja» oder «Nein» antworten, sondern musste immer ein «Herr Schäfer» anfügen. Es bliebnicht aus, dass er der jungen «Tippse», die beim Diktat die Beine so ordentlich übereinanderlegte und die Briefe so ordentlich schrieb, dass er sie ungelesen unterschreiben konnte, eine Festanstellung nach der Abschlussprüfung in Aussicht stellte.
Wie sie es in der Grundschule gelernt hatte, erhob sich Maria, wenn Herr Schäfer das Büro betrat, und knipste am Abend als Letzte hinter ihm das Licht aus. Um sie für die freiwillig geleisteten und selbstverständlich unbezahlten Überstunden zu loben, trat er etwas näher als notwendig an sie heran. Sein Atem war rein, er erfrischte ihn regelmäßig mit Pfefferminz aus einem handlichen Tablettenspender. Einmal zupfte er einen Flusen von ihrer Bluse, ein andermal strich er mit einer schnellen Bewegung ihren Rock glatt, weiter ging er als verheirateter Mann, Vater von zwei Kindern, nicht. Zunächst nicht.
Für ihr Betragen, ihre rege Teilnahme am Unterricht und ihre schulischen Leistungen erhielt Maria im Abschlusszeugnis ein «Sehr gut». Um ihr zu gratulieren, rief Herr Schäfer sie nach Dienstschluss in sein Arbeitszimmer. Er schenkte zwei Gläser Likör ein, sie prosteten sich zu, er schenkte nach, rief «Ex!» und blickte ihr, bereits angetrunken, tief in die Augen. Ob er sich ihr anvertrauen könne, wollte er wissen. Maria nickte artig, aber auch ein bisschen geschmeichelt. Seine Ehe sei gescheitert, gestand er ihr, er ein unglücklicher und einsamer Mann. Er sehne sich nach Zärtlichkeit. Mit diesen Worten drückte er sich an sie. Er werde sie zu seiner Chefsekretärin machen und ihr Gehalt entsprechend erhöhen, versprach er ihr, jetzt schon erhitzt.
Sie ließ ihn reden, ließ ihn machen. Er war ungeschickt, sie selbst musste den Reißverschluss des Rockes öffnen. Für Zärtlichkeiten ließ er sich keine Zeit. Im entscheidenden Augenblick schaute sie in das Gesicht des Firmengründers, dessen Porträt die Wand hinter dem Schreibtisch zierte.
Um älter zu erscheinen, zog Maria von jetzt an jeden Mittwochnach getaner Arbeit mit einem Stift die Augenbrauen nach und tupfte sich einen Tropfen Parfum hinters Ohr. Wenn alle anderen Mitarbeiter gegangen
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