Der Maskensammler - Roman
Nase hervor wie der Bug eines Schiffes. Sein Mund gleicht einer Höhle, gesäumt von Fangzähnen, spitz wie Dornen. Feuerrotes Haar fällt auf seine Schultern und bedeckt in borstigen Büscheln Brust und Arme. Es ist Barandjana, der mächtige Herrscher des Menschenfresser-Königreichs.» – Bernhard sah ihn, seine Gestalt hob sich ab von der Linie eines fernen Horizonts.
Er kannte die Geschichte. Schon halb im Schlaf erzählte er sie einem Mädchen, in dem er von Satz zu Satz mehr Ursula erkannte, wie er sie vor Jahren gemalt hatte: «Barandjana ist bis zum Wahnsinn in die Prinzessin Titisari verliebt, von deren unvergleichlicher Schönheit ihm berichtet wurde. Eines Nachts erscheint sie ihm im Traum, und sofort beginnt sein riesiges Herz vor leidenschaftlichem Verlangen zu schlagen. Am Morgen wacht er in wilder Begierde auf, und während die Erde unter einem Trommelwirbel seiner Fäuste erbebt, beschließt er, Titisari aus dem Palast ihres Vaters zu entführen.
Seine Ratgeberin, die Menschenfresserin Lajarmega, versucht, ihn mit Verführungskünsten, dann mit Argumenten von seinem Vorhaben abzubringen: ‹Es ziemt sich nicht, Majestät, dass Ihr dieses Menschenwesen zur Frau nehmt. Menschenfresser ehelichenMenschenfresserinnen. Diese Titisari bringt Unheil über Euch und Euer Land.›
Barandjana hört nicht auf ihre Worte. Er schickt Montrokendo, seinen besten Krieger, zum Hof des Königs von Dwarawati. Er soll in der Maske des Sidha Karya, dessen, ‹dem alles gelingt›, durch eine List die liebliche Titisari in seine Gewalt bringen.
Kaltblütig führt Montrokendo seinen Auftrag aus. Versteckt unter einer Affenmaske, die ihr ganzes Gesicht verbirgt, verschleppt er Titisari in das Reich der Menschenfresser.
Zu spät bemerkt Prinz Panji, der Verlobte von Titisari, die frevlerische Tat. Eigenhändig tötet er die Hauptzofe Condong, die dem Entführer Zugang zum Palast verschafft hat. Dann berät er sich mit seinen Ministern. Auch er will sich einer List bedienen. In der Maske eines Bondres, eines fahrenden Arztes, macht er sich auf den Weg zum Hof des Barandjana, ohne zu wissen, dass ein guter Dämon ihm vorauseilt.
Der gute Dämon behext den Giganten und nimmt ihm seine Manneskraft. Vergeblich versucht Barandjana, Titisari zu verführen. Da berichten ihm seine Minister, allen voran Lajarmega, von einem Arzt, der als Spezialist für ‹romantische Probleme› durchs Land zieht. Als Panji, von den Dienern gerufen, vor ihm steht, klagt Barandjana dem vermeintlichen Arzt, dass ihn bei seiner neuen Frau die Lust verlässt. ‹Ist sie denn so hässlich?›, will Panji wissen und verlangt, die Frau zu sehen. Die liebliche Titisari erkennt sofort ihren Verlobten und nimmt ihm die Maske vom Gesicht.
Es kommt zum Duell. Mit der Manneskraft hat Barandjana auch der Kampfesmut verlassen. Nur bedacht, sein Leben zu retten, weicht er vor den Angriffen des jungen Prinzen zurück. Dem führt der gute Dämon das Schwert. Er bezwingt den König der Menschenfresser, der sich ihm mit über dem Kopf gefalteten Händen als Zeichen der Ehrerbietung unterwirft.
Begleitet von den Melodien der Bambusflöte und den Schlägen des Gongs, führt Panji als glorreicher Sieger seine Braut zurück nach Dwarawati.»
Bernhard hatte sein Thema gefunden. Mit einem Eifer, der während seines Studiums hilfreich gewesen wäre, las, verglich und kommentierte er die Mythen Javas und Balis. Bei seiner Abreise aus dem Sanatorium hatte er eine ganze Bibliothek und über tausend Seiten handschriftlicher Aufzeichnungen im Gepäck.
***
Von dem Tag an, an dem Ursula das Haus verlassen hatte, vermisste Maria ihre Schwester. Auf der Suche nach einer Spur von ihr lief sie durch die Zimmer und steckte mit einem Seufzer ihre Nase in Decken und Kissen, die nach Ursula rochen. Ohne aufzubegehren, ertrug sie Katrins Launen und Attacken, die jetzt ungeteilt sie trafen. In Manfred hatte sie keinen Verbündeten. Der schloss sich ein und bastelte Fallen, in denen er im Winter Mäuse und im Sommer Eidechsen fing. Maria kochte und spülte, putzte und wischte, stopfte und flickte, und wenn ab und zu ein Blumenstrauß auf dem Tisch stand, hatte sie ihn gepflückt. Im Traum machte sie sich auf den Weg in die ferne Stadt, um bei ihrer Schwester zu sein. «Wenn auch du auf die Idee kommst, abzuhauen, mach ich Kleinholz aus dir!», drohte Katrin.
Maria hatte nur einen Hauptschulabschluss. In der «Büro- und Schreibartikel-Großhandlung Gebr. Schäfer» machte sie eine
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