Der Maskensammler - Roman
alltägliche Tätigkeiten, aber sie beschäftigten Marias Phantasie, als wäre hinter ihrer Normalität eine geheime Botschaft verborgen. Gerne hätte sie mehr von dieser Frau gewusst, deren Erscheinung, deren Gesten und Handgriffe ihr immer vertrauter wurden.
Eines Tages hatte die Frau Besuch von einer anderen, jüngeren Frau, die, als sei auch sie nur eine Beobachterin, mit dem Rücken zur Straße an einem Fenster stand. Für einen Augenblick meinte Maria, in ihr Ursula zu erkennen: die struppigen Haare, der schlanke Hals, um den Maria ihre Schwester immer beneidet hatte, und die langen Arme. Um die zu bedecken, hatte Katrin Manschetten an die Blusen nähen müssen. Sie war überrascht, konnte es nicht glauben, und doch stieg Maria vor Freude eine Röte ins Gesicht. Sie wollte rufen, sich irgendwie bemerkbar machen. Da drehte sich die Frau um. Es war eine Fremde.
***
Maria erfuhr es von Frau Meier. Es war keine Mitteilung, keine Nachricht, Frau Meier verkündete es ihr wie eine Botschaft: Morgen kommt Axel von seiner Reise zurück. Sie hatte ihn seit jener Faschingsnacht nicht mehr gesehen. Tage hatte sie auf einen Anruf von ihm gewartet. Als er sich nicht meldete, wurde ihr klar,dass die Nacht mit ihr für ihn nur ein Ausrutscher war, ein kurzes Abenteuer ohne Bedeutung. Vielleicht ging es gar nicht um sie, sondern war nur eine kleine Rache an seinem Bruder. Und war nicht auch sie nur mit in seine Wohnung gegangen, um sich an Franz zu rächen? «Dass Sie sich von Axel fernhalten!», hatte Herr Schwann gesagt und der Mutter seines Enkelkindes nicht einmal eine Tasse Tee angeboten. Das war ein Befehl, und sie hatte ihm gehorcht. Bei ihren Schreibsachen lag ein Brief an Axel, sie hatte nicht gewagt, ihn abzusenden.
Herr Schwann hatte seine Söhne befragt. Es war ein Verhör. Mit beiden war dieses Flittchen ins Bett gegangen. Franz würde heiraten, standesgemäß, die Erbin eines stattlichen Vermögens und – nebenbei gesagt – eine rassige Frau. Auf Axel musste man aufpassen, er neigte zu Dummheiten. «Ich muss ihn eine Zeit lang aus dem Verkehr ziehen», hatte Herr Schwann gedacht und Axel ins Ausland geschickt. Englisch sollte er in einer Sprachschule lernen. Nach seiner Rückkehr würde man weitersehen.
Auch das hatte Maria von Frau Meier erfahren. Sie dachte: Sein Vater hat ihn nach England geschickt. Er hat sich verschicken lassen wie ein Postpaket. Er ist ein Schwächling, er hat keinen eigenen Willen. Jetzt ist er zurück. Ich will ihn nicht sehen. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. «Verdammt! Verdammte Sauerei!», sagte sie laut, um die Stimme nicht zu hören, die ihr zuflüsterte: «Er hat dich vergessen!»
An dem Tag, an dem sie beim Ankleiden vor dem Spiegel meinte, eine erste Rundung ihres Bauches wahrzunehmen, stand Axel vor ihrer Haustür, in der Hand einen in Folie eingepackten Blumenstrauß. «Der ist für dich», sagte er. Er stand vor ihr, verlegen wie ein Schuljunge und kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie ihn an, als könne sie nicht glauben, was sie sah. Dann starrte sie auf die Blumen, die er ihr überreichte, und wusste, was jetzt und hier geschah, wäre unwiderruflichund würde ihr Leben verändern. «Danke für den schönen Strauß», wollte sie sagen, schluckte aber nur und sagte nichts. Ihr erster Satz sollte keine Unwahrheit sein: Fresien waren die einzigen Blumen, die sie nicht mochte.
«Komm», sagte sie. «Wir gehen nach oben.» Ihre Hände zitterten, sie hatte Mühe, mit dem Schlüssel das Schloss ihrer Wohnungstür zu finden. Sie setzten sich einander gegenüber an den Küchentisch, keiner sagte etwas, keiner wollte den Anfang machen. Als sie sich beruhigt hatte, stand sie auf, ging zum Telefon, wählte die Nummer von Frau Meier in der Firma, hustete, sagte, sie könne heute nicht kommen, sie sei krank. Dann ging sie Schritt für Schritt auf ihn zu, beugte sich nach vorne und küsste ihn. Was dann kam, war wie aus einem Film, in dem sie schon einmal die Hauptrollen gespielt hatten. In Zeitlupe verteilten sich ihre Kleider auf dem Boden. Als er schon auf ihrem Bettrand saß, zog Maria ihm als Letztes die Socken aus. Er ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen. Sie aber sah ihn an, sah, wie ihre Hand an seinem Schenkel entlangwanderte, wie sie fand, was sie suchte, kurz betastete und dann mit ihren Fingern umschloss. Als sie ihn so hielt, war es keine Frage mehr, sie wusste mit plötzlicher Gewissheit: Axel war
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