Der Maskensammler - Roman
der Vater ihres Kindes. Sie zog ihn auf sich, umschlang ihn mit ihren Beinen und hielt ihn fest. «Beweg dich nicht», flüsterte sie. «Bleib ganz ruhig so liegen. Ich will diesen Augenblick nie vergessen.» Wäre sie nicht schon schwanger gewesen, sie wäre es an diesem Tag geworden.
***
Die ersten Male waren sie fast stumm. Sie verständigten sich mit kurzen, einfachen Sätzen, als müssten sie erst eine Sprache finden, in der sie sich mitteilen konnten. «Wann kommst du wieder?» Mehr wollte Maria nicht wissen. Sie stellte weiter keine Fragen, aus Furcht, Fragen könnten ihr Glück gefährden.
Sie gab ihm einen Schlüssel, damit er nicht klingeln musste. Immer brachte er etwas mit, mal eine Spanschachtel getrockneter Feigen, mal ein Eau de Cologne, mal einen roten Knirps und mal eine Flotte Lotte, mit der man Teig rühren und kneten konnte. Einmal fuhren sie in die Nachbarstadt, wo niemanden sie kannte, um in einem italienischen Restaurant zu Abend zu essen; einmal trafen sie sich in einem Kino, aber Axel kam erst, als der Hauptfilm schon lief, und setzte sich im Dunkeln neben sie. Er ging in den Sportclub, traf seine Freunde, wo und mit wem er seine übrigen Abende verbrachte, war sein Geheimnis. Es ging niemand etwas an.
Die Ärztin hatte eine Berechnung angestellt. Für Maria begann damit eine neue Zeitrechnung. Sie zählte die Tage und feierte jede vergangene Woche, die sie der Geburt näher brachte, mit einer Kanne Kakao. Als sie meinte, eine erste Bewegung in ihrem Inneren zu spüren, konnte sie es nicht länger aushalten. Sie legte Axels Hand auf ihren Bauch und sagte: «Da drin ist unser Kind.» – «Ich weiß», antwortete er. «Ich hab es dir angesehen.» – «Wieso?», wollte sie wissen. «Nicht angesehen. Ich hab es gespürt. Ja, irgendwie gespürt.» – «Und? Hat es dich erschreckt?» – «Nein, überhaupt nicht.» Später, als er gehen musste, sagte sie: «Dein Vater darf nichts davon erfahren.» – «Vorläufig nicht. Wenn es so weit ist, werde ich es ihm sagen. Der Schlag wird ihn treffen.»
An einem Sonntag, an dem Maria sich vorgenommen hatte, darüber nachzudenken, wie es ihr gelingen könnte, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, stand Axel an ihrer Tür, obwohl er «Familientag» hatte.
***
Um das Zusammengehörigkeitsgefühl aufrechtzuerhalten, versammelte Herr Schwann nach Ostern, zu Allerheiligen und zur Feier seines Geburtstages die «große Runde» zu einem ausgedehntenMittagessen im Ratskeller von Birkenfeld. Diese Familientreffen hatten ihre eigene Dramaturgie. Er saß an der Tête und blieb dort von der Suppe bis zur Nachspeise sitzen, während seine Söhne, die Tanten und ihre Ehemänner, die Nichten und Neffen nach jedem Gang die Plätze wechseln mussten, damit jeder mit jedem einmal sprechen konnte. Die Gespräche blieben auf diese Weise kurz und floskelhaft, aber für Eifersüchteleien und boshafte Bemerkungen war keine Zeit. Wenn alles nach seinen Vorstellungen ablief, klopfte Herr Schwann beim Nachtisch an sein Glas. Sofort trat Stille ein, gespannt wartete die Runde, was ihr Oberhaupt verkünden würde. Gleich im ersten Satz würde er an den Familiensinn appellieren, das war üblich, und dann, um ein gutes Beispiel zu geben, einem von ihnen, einem Erwählten, finanziell unter die Arme greifen. Diesmal war es Martha, genannt Mausi, wegen ihrer unauffälligen Erscheinung und ihres verhuschten Wesens. Das Leben habe ihr so manches vorenthalten, sagte Herr Schwann und ließ offen, was er damit meinte. Er aber habe sich entschlossen, ihr, Martha, als ein Zeichen der Fürsorge, bis zum nächsten Familientreffen monatlich zweitausend Mark auf ihr Konto zu überweisen. Fassungslos vor Glück umarmte Mausi ihren großherzigen Onkel, die Runde klatschte Beifall.
Herr Schwann, der bei solchen Feierlichkeiten reichlich trank, erwartete von seinen Söhnen, dass sie ihn nach Hause brachten, ihn aufs Sofa betteten und ihm bis in den späten Abend Gesellschaft leisteten. Noch benommen vom Alkohol war er dann in einer weichen Stimmung. Er erzählte Geschichten aus der guten, alten Zeit, die immer zu seinen Gunsten ausgingen, und verlor sich vor dem Zubettgehen in Überlegungen, wie er sein Erbe am besten aufteilen könnte.
Franz hatte zum Familientag seine Verlobte mitbringen dürfen. Zu Beginn hatte sie den Ehrenplatz neben Herrn Schwann, und der bestand darauf, dass sie ihn nach dem Mokka zum Auto führte,was ihm Gelegenheit gab, ihren Arm zu ergreifen und sich gegen ihre weichen
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