Der Maskensammler - Roman
«Ja, warum nicht? Ich habe mir nie Enkelkinder gewünscht.»
***
Katrin lag in einem Eisenbett mit Rädern und starrte mit geweiteten Augen zur Zimmerdecke. Als Ursula sie sah, wusste sie sofort, auf was sie sich einstellen musste. Katrins Gesicht war eingefallen, die Haut gelb und spannte über den Wangenknochen, ihre Nase wirkte unnatürlich lang und spitz. Aus ihrem leicht geöffneten Mund kam beim Ausatmen ein kleiner Klagelaut: «Ach! Ach! Ach!» Mit der scharfen Säure eines Desinfektionsmittels mischte sich ein anderer Geruch: der süßliche Geruch einer Sterbenden. Ursula rief ihren Namen, die Augen der Kranken zitterten. Es lief ein Schaudern durch ihren Körper, aus ihrer Kehle löste sich ein gurgelndes Geräusch, und als sie sich beruhigt hatte, traten ihr Schaumbläschen aus dem Mund.
Da stürmte, ohne anzuklopfen, ein Arzt, gefolgt von einer Krankenschwester, ins Zimmer. Mechanisch griff er nach Katrins Handgelenk. Er gab eine Anweisung, Ursula verstand, dass er eine Infusion anordnete. Schon zur Tür gewandt, bemerkte er sie. «Ich bindie Tochter von Frau Weinzierl.» – «Wir haben so gut wie keine Hoffnung mehr», sagte der Arzt mit einer Stimme, die ihr zu verstehen gab: Wir haben sie aufgegeben. «Kann ich bei meiner Mutter bleiben?» – «Können Sie. Aber machen Sie sich auf eine unruhige Nacht gefasst. Die Nachtschwester hat Anweisung, jede Stunde nach der Patientin zu sehen.» – Grußlos eilte der Arzt hinaus.
Der Raum hatte kein Fenster, das man hätte öffnen können, nur zum Flur eine matt verglaste Scheibe. An der Wand hing ein Kruzifix, darunter ein Waschbecken mit einer Flasche Sagrotan, ein Spender für Papierhandtücher und ein Treteimer für Abfälle. Sonst nichts. Es war die Sterbekammer des Krankenhauses.
Unter den misstrauischen Blicken der Stationsschwester holte sich Ursula einen Stuhl aus dem Wartezimmer. Wie betäubt saß sie im Halbdunkel neben ihrer Mutter, versuchte regelmäßig zu atmen, und erst nach längerem Zögern konnte sie sie berühren. Sie strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte dann ihre Wange. Katrins Haut schien unter der Berührung zu knistern. Wieder zitterten ihre Augen.
Die Nachtschwester kam zum ersten Mal um zweiundzwanzig Uhr. Sie brachte eine Kanne Kamillentee und entfernte die Infusionsnadel. «Bleiben Sie die ganze Nacht?» – Ursula nickte. «Dann brauche ich ja nicht jede Stunde nach dem Rechten zu sehen. Klingeln Sie, wenn irgendwas ist.» – Als sie gegangen war, trat Stille ein. Katrin schien zu schlafen, die Klagelaute waren verstummt. Erst stockend, dann ohne Scheu fing Ursula an zu sprechen. Sie erzählte ihrer Mutter ihre Geschichte von dem Tag an, an dem sie das Haus verlassen hatte, bis zu dem zufälligen Zusammentreffen an diesem Tag mit Bernhard: von ihrem Zimmer in der Pension, von Gerd und dem Sit-in vor der Uni, von Holger und seinem Sprung aus dem Fenster, von den Verhören durch die Polizei, von Ines, ihrer ersten Liebe, von dem Kongress in Berlin, von dem Schuss nachtsim Park und ihrer Versöhnung mit Manfred. Sie hatte ihn verständigt. Er war geschockt von der Nachricht gewesen, wollte aber die Mutter nicht sehen. «Nein, nein, ihr Anblick! Das halte ich nicht aus!» Diese Worte des Bruders verschwieg sie.
Irgendwann musste Ursula eingeschlafen sein. Gegen fünf Uhr morgens wachte sie auf. Sie war vom Stuhl gerutscht, ihr Oberkörper war nach vorne auf die Bettkante gekippt. Als sie die Augen öffnete, lag der Kopf der Mutter nur eine Handspanne vor ihr auf dem Kissen. Sie schreckte hoch, stieß durch die jähe Bewegung den Stuhl um, wollte hinaus auf den Flur rennen, fasste sich dann aber und suchte, wie sie es im Praktikum gelernt hatte, an der Halsschlagader nach dem Puls. Sie fühlte nichts, er war erloschen. Katrin war tot, gestorben, während sie schlief.
Ursula schellte. Dann stellte sie den Stuhl auf und setzte sich. Als die Nachtschwester kam, hatte sie ihre Frisur bereits in Ordnung gebracht.
***
Im Radio wurde vor einem Unwetter gewarnt. Von Westen näherte sich mit einer Geschwindigkeit von über hundert Stundenkilometern ein Sturmtief, das quer durch die Mitte Frankreichs Verwüstungen angerichtet hatte: abgeknickte Strommasten, von umgestürzten Bäumen blockierte Straßen, abgedeckte Dächer. Bei Metz war ein Sportflugzeug an einem Sendemast zerschellt, der Pilot hatte den Tod gefunden. Die Meteorologen hatten dem Sturm einen Namen gegeben. Ursula horchte auf: Er hieß Katrin.
Die
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