Der Maskensammler - Roman
Nachtschwester hatte sie in der Sterbekammer sitzen lassen. Sie rieb sich die Schläfen, sie war benommen vor Kopfschmerzen. Katrins Züge hatten die Starre einer Maske angenommen. Ursula fühlte keinen Schmerz, keine Trauer, nichts. «Ich halte Totenwache», war der einzige Satz, den sie denken konnte. Die Zeitstand still im fahlen Licht der Milchglasscheibe. Irgendwann kam ein Mann in einem weißen Kittel und sagte: «Wir sind alle mal dran.» – Er zog Katrin das Leintuch über den Kopf, lockerte die Bremse und schob das Bett aus dem Zimmer.
Als endlich das Büro öffnete, klopfte Ursula und fragte eine mit einem Stoß roter Zettel beschäftige Frau, was jetzt zu tun wäre. «Nichts. Sie können mir Ihre Adresse geben. Sonst ist im Moment nichts zu tun. Es wird ein paar Tage dauern, bis die Verstorbene zur Beerdigung freigegeben wird. Dann werden wir Sie benachrichtigen.» – Sie reichte Ursula ein Papiertaschentuch. «Bitte!» Sie hatte die Tränen bemerkt, die Ursula über die Wangen liefen.
Jetzt trank Ursula einen Kaffee in der Bahnhofsgaststätte an dem Tisch, an dem ihr Vater gesessen hatte. Ihr Zug hatte Verspätung, sie würde den Anschlusszug verpassen. Am Ende der Rundfunknachrichten wurde die Unwetterwarnung wiederholt. Es wurde empfohlen, Schlagläden und Tore zu verriegeln, Fenster geschlossen zu halten und das Haus nach Möglichkeit nicht zu verlassen.
Als Ursula den Bahnhofsvorplatz überquerte, war über ihr ein Jaulen zu hören. Eine Sturmböe stürzte auf sie herab, trieb sie ein paar Meter vor sich her und wollte ihr die Tasche entreißen. Staubkörner prasselten ihr ins Gesicht. Mit einem Schnalzen flog ein Plastikfetzen wie ein entfesselter Drachen auf sie zu. Dann ein Schuss. Entsetzt sprang sie unter ein Vordach und sah sich um. Ein losgerissener Dachziegel war ein Stück weiter vorne auf dem Gehsteig zerschellt. Er hatte eine Katze getroffen. Sie schlug mit ihren Vorderpfoten wie von Sinnen nach einem unsichtbaren Angreifer. Dann drehte sie sich schreiend im Kreis und schleppte sich mit zertrümmertem Hinterteil davon.
Ursula wäre am liebsten in ihrem Zugabteil sitzen geblieben, weiter und weiter bis an einen Ort gefahren, an dem man von toten Müttern und kranken Vätern nichts wusste. Zu Hause erwartete sie die Freundin, mit der sie nun schon einige Zeit zusammenwar. Anstatt sich einfach nur ins Bett fallen zu lassen, musste sie ihr berichten. Sie war ihre Lebensgefährtin, sie hatte ein Anrecht darauf zu erfahren, was vorgefallen war.
***
«Was soll’s!», sagte Ruth, als Ursula frisch geduscht mit ihr auf dem Sofa saß. «Deine Mutter hatte einen friedlichen Tod. Wahrscheinlich war eine Prise Morphium in der Infusion. Und dass du deinen Vater ganz zufällig in der Kneipe triffst, finde ich witzig. Du hast dich in der letzten Zeit nicht um ihn gekümmert, o.k. Aber deswegen brauchst du doch kein schlechtes Gewissen zu haben. Der ist ein Spinner, der lebt in einer anderen Welt. Dass er dich gezeugt hat, war reiner Zufall. Hör zu: Du musst dich von deiner Familie emanzipieren, du musst endlich erwachsen werden.» – Ursula fand es anmaßend, wie die Freundin über ihren Vater sprach, sagte aber nichts. Es hatte in letzter Zeit häufig Auseinandersetzungen gegeben, meist aus nichtigem Anlass, jetzt war Ursula nicht nach Streiten zumute. Um auf andere Gedanken zu kommen, kraulte sie Ruth den Nacken. – Später rief sie bei der Auskunft an und ließ sich die Nummer der Großhandlung Gebrüder Schäfer geben. Fräulein Weinzierl war nicht zu sprechen, sie hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen.
***
Ein Berliner Auktionshaus kündigte ein Ereignis an: Eine private Masken-Sammlung, vielleicht die bedeutendste Europas, kam unter den Hammer. Experten wussten von ihrer Existenz, aber nie war sie zugänglich gemacht worden, auch nicht für eine Bestandsaufnahme oder Katalogisierung. Den Schwerpunkt der Sammlung bildeten Masken aus Asien – mehr wusste man nicht.
Noch bevor das Versteigerungsdatum feststand, zogen Antiquitätenhändler Erkundigungen ein, versuchten Strohmänner von privaten Aufkäufern an Schätzpreise zu kommen, und überprüften Volkskunde-Museen ihren Einkaufsetat. Da ging kurz vor Drucklegung des Kataloges beim Auktionshaus ein anonymer Brief ein, in dem behauptet wurde, ein Teil der Masken wären Kopien, geschickt aus altem Holz gefertigte Imitate. Der Direktor zögerte einen Augenblick, dann widerstand er der Versuchung, das Schreiben verschwinden und den
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