Der Matarese-Bund
für den Hirtenjungen. Damit wir den Hirtenjungen finden können!«
»Aber wir wissen nicht genug! Kommen Sie!« Scofield richtete sich auf und riß die Waffe aus dem Gürtel. Der Hund knurrte; das Mädchen schickte sich an, aufzustehen. Taleniekov stieß sie wieder zu Boden.
Sie kamen zu spät. Drei Schüsse hallten, einer hinter dem anderen.
Antonia schrie; Bray sprang vor, hielt sie fest, umklammerte sie. »Bitte, bitte!« flüsterte er. Er sah, wie der Russe von irgendwo unter seiner Jacke ein Messer zum Vorschein brachte. »Nein – Es ist schon gut!«
Taleniekov steckte das Messer wieder ein und kniete nieder, spähte zu dem Haus hinunter. »Jetzt rennen sie heraus. Sie haben recht gehabt; die laufen zum Südhang.«
»Töten Sie sie!« Scofields Hand dämpfte die Stimme des Mädchens.
»Welchen Zweck hätte das jetzt?« sagte der KGB-Mann. »Sie hat das getan, was sie tun wollte, was sie glaubte, tun zu müssen.«
Der Hund weigerte sich, ihnen zu folgen; Antonias Befehle hatten keine Wirkung. Er rannte zu dem Haus hinunter und kam nicht mehr heraus; sein Wimmern hallte zu ihnen empor.
»Wiedersehen, Uccello«, sagte das Mädchen und schluchzte. »Ich komme zurück und hole dic h. Ich schwöre bei Gott, daß ich zurückkomme!«
Sie verließen die Berge, bogen nach Nordwesten über die Hügel von Porto Vecchio hinaus und dann nach Süden, nach Sainte-Lucie, folgten dem Fluß, bis sie die mächtige Fichte erreichten, unter der Bray seinen Aktenkoffer und den Seesack vergraben hatte. Sie bewegten sich mit großer Vorsicht, hielten sich die meiste Zeit im Wald auf. und trennten sich, wenn es galt, freie Flächen zu überqueren, damit man sie nicht zusammen sah.
Scofield zog die Schaufel unter einem Haufen Zweige hervor und grub seine Habseligkeiten aus. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung, zogen am Fluß entlang, nach Norden, auf Sainte-Lucie zu. Sie sprachen nur wenig miteinander und verschwendeten keinen Augenblick in dem Bemühen, sich möglichst weit von den Hügeln zu entfernen.
Die langen Perioden des Schweigens und die immer wieder erforderliche Trennung erfüllten einen praktischen Zweck, dachte Bray, der das Mädchen beobachtete, das verwirrt mit ihnen marschierte und ihren Befehlen ohne nachzudenken gehorchte. Immer wieder traten Tränen in ihre Augen. Die dauernde Bewegung hielt sie beschäftigt; sie mußte irgendwie den Tod ihrer »Großmutter« überwinden. Worte von Fremden konnten ihr dabei nicht helfen; sie brauchte die Einsamkeit ihrer eigenen Gedanken. Scofield vermutete, daß Antonia trotz ihrer Lupara kein Kind der Gewalt war. Ein Kind war sie übrigens ohnehin nicht; im Licht des Tages war deutlich zu sehen, daß sie die Dreißig bereits überschritten hatte, aber davon abgesehen entstammte sie einer Welt radikaler Akademiker, nicht einer Welt der Revolution. Er bezweifelte, daß sie an den Barrikaden wissen würde, was es zu tun galt.
»Wir müssen aufhören zu fliehen!« rief sie plötzlich. »Sie können tun, was Sie wollen, aber ich kehre nach Porto Vecchio zurück. Ich werde dafür sorgen, daß die gehängt werden!«
»Es gibt sehr viel, was Sie nicht wissen«, sagte Taleniekov. »Man hat sie ermordet! Das ist alles, was ich wissen muß!«
»So einfach ist das nicht«, sagte Bray. »In Wahrheit hat sie sich selbst getötet.«
»Die haben sie getötet!«
»Sie hat sie dazu gezwungen.« Scofield nahm ihre Hand, hielt sie fest umfaßt. »Versuchen Sie mich zu verstehen. Wir können Sie nicht umkehren lassen; ihre Großmutter hat das gewußt. Was in den letzten achtundvierzig Stunden geschehen ist, muß so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten. Es wird sicher Panik in den Hügeln geben; man wird Männer ausschicken, die uns suchen sollen, aber in einigen Wochen, wenn bis dahin nichts geschieht, werden sie abkühlen. Sie werden mit ihren eigenen Ängsten leben, aber sie werden still sein. Das ist das einzige, was sie tun können. Ihre Großmutter hat das begriffen. Sie hat darauf gebaut.«
»Aber warum?«
»Weil wir andere Dinge tun müssen«, sagte der Russe.
»Auch das hat sie begriffen. Deshalb hat sie Sie geschickt, um uns zu suchen.«
»Was sind das für Dinge?« fragte Antonia und gab sich dann selbst die Antwort. »Sie hat gesagt, daß Sie Namen hätten. Sie sprach von dem Hirtenjungen.«
»Aber Sie dürfen davon nicht reden«, befahl Taleniekov. »Nicht, wenn Sie wollen, daß der Tod Ihrer Großmutter einen Sinn hat. Wir können nicht zulassen, daß Sie
Weitere Kostenlose Bücher