Der Matarese-Bund
erzählen Sie sie jetzt uns und deuten an, daß wir sie aus Korsika hinaustragen sollen. Warum?«
»Hat nicht ein Mann in Ihrem eigenen Land nach Ihnen gerufen und Ihnen Dinge gesagt, von denen er wollte, daß Sie sie erfuhren?« Der Russe schickte sich an zu antworten; Sophia Pastorine unterbrach ihn. »Ja, Signore. Wie jenem Mann, so rückt auch mir das Ende meines Lebens nahe; mit jedem Atemzug weiß ich das. Der Tod, so scheint es, fordert diejenigen von uns, die von den Matarese wissen, auf, darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen den Grund nennen kann, aber für mich war das ein Zeichen. Meine Enkelin ging die Hügel hinunter und kam mit der Nachricht zurück, daß ein Gelehrter Informationen über den Padrone suchte. Sie waren mein Zeichen. Ich habe sie zurückgeschickt, um Sie zu finden.«
»Weiß sie es?« fragte Bray. »Haben Sie es ihr je gesagt? Sie hätte die Geschichte hinaustragen können.«
»Niemals! Man kennt sie in den Hügeln, aber sie ist nicht von den Hügeln! Man würde sie jagen, wohin auch immer sie geht. Man würde sie töten. Ich habe um Ihr Wort gebeten, Signori, und Sie müssen es mir geben. Sie dürfen nichts mehr mit ihr zu tun haben.«
»Sie haben es«, nickte Taleniekov. »Sie ist unseretwegen nicht in diesem Raum.«
»Was hofften Sie durch ein Gespräch mit meinem Begleiter zu erreichen?« fragte Bray.
»Was sein Freund auch erhoffte, denke ich. Die Männer dazu zu bringen, unter die Wellen zu schauen, in das finstere Wasser. Dort findet man die eigentliche Kraft, die die See bewegt.«
»Der Bund der Matarese«, sagte der KGB-Mann und starrte in die blinden Augen.
»Ja… ich habe es Ihnen gesagt. Ich höre mir die Nachrichtensendungen aus Rom, Mailand und Nizza an. Es geschieht überall. Die Prophezeiungen von Guillaume de Matarese erfüllen sich. Man muß nicht sehr gebildet sein, um das zu sehen. Jahrelang habe ich die Nachrichtensendungen gehört und mich gefragt. Konnte es sein? War es möglich, daß sie doch überleben? Dann hörte ich eines Nachts die Worte, und es war gerade, als hätte die Zeit jede Bedeutung verloren. Ich war wieder im Schatten des Balkons in der großen Halle; in meinen Ohren hallten die Schüsse und die Schreckensschreie. Ich war dort, mit meinen Augen, ehe Gott sie mir nahm, und war Zeuge der schrecklichen Szene unter mir. Ich erinnerte mich, was der Padrone wenige Augenblicke vorher gesagt hatte: ›Ihr und die Euren werdet das tun, was ich nicht länger tun kann.‹« Die alte Frau hielt inne; ihre blinden Augen waren feucht. Dann begann sie aufs neue, und die Hast peitschte ihre Sätze.
»Es war wahr! Sie hatten überlebt – nicht der Bund, wie er damals war, sondern wie er heute ist. ›Ihr und die Euren.‹ Die Euren hatten überlebt! Angeführt von dem einen Mann, dessen Stimme grausamer war als der Wind.« Sophia Pastorine hielt plötzlich wieder inne und ihre schwachen, zarten Hände tasteten nach der hölzernen Armlehne ihres Stuhles. Sie stand auf und griff mit der linken Hand nach dem Stock, der am Ofen lehnte.
»Die Liste. Sie müssen sie haben, Signori! Ich habe sie vor siebzig Jahren aus meinem blutdurchtränkten Kleid herausgeholt, nachdem ich aus dem Grab in den Bergen gekrochen war. Sie war während des ganzen Schreckens dicht an meinem Körper geblieben. Ich hatte sie mit mir getragen, um ihre Namen und ihre Titel nicht zu vergessen, damit mein Padrone stolz auf mich sein konnte.« Die alte Frau tappte mit dem Stock vor sich her, während sie quer durch das Zimmer zu einem primitiven Wandregal ging. Ihre rechte Hand tastete an seiner Kante entlang, ihre Finger zitterten zögernd zwischen den verschiedenen Töpfen, bis sie den fand, den sie gesucht hatte. Sie nahm den Tondeckel ab, griff hinein und holte einen vergilbten Papierfetzen heraus. Sie wandte sich um. »Da haben Sie sie. Namen aus der Vergangenheit. Dies ist die Liste der Ehrengäste, die am 4. April im Jahre 1911 unter strenger Geheimhaltung zur Villa Matarese reisten. Wenn ich etwas Schreckliches tue, indem ich es Ihnen gebe, möge Gott meiner armen Seele gnädig sein.«
Scofield und Taleniekov waren aufgesprungen. »Sie tun nichts Schreckliches«, sagte Bray. »Sie haben das Richtige getan.«
»Das einzige«, fügte Wassili hinzu. Er berührte ihre Hand. »Darf ich?« Sie ließ den verblichenen Papierfetzen los; der Russe studierte ihn. »Das ist der Schlüssel«, sagte er zu Scofield. »Es geht auch weit über alles hinaus, was wir erwartet
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