Der Matarese-Bund
weiter.
Acht Minuten später war er fertig. Er riß die Serviette in zwei Hälften und kopierte den Text in großen unverwechselbaren Buchstaben und reichte das Blatt dann Maletkin. »Ich möchte, daß dieses Kabel nach Helsinki geschickt wird, an den Namen und das Hotel, wie ich oben angegeben habe. Ich will, daß es auf einer weißen Leitung übermittelt wird; Geschäftsverkehr, nicht zweimal abgefangen.«
Die Augen des Verräters weiteten sich. »Wie soll ich das anstellen?«
»Auf dem gleichen Wege, auf dem Sie Informationen an unsere Freunde in Washington schicken. Sie kennen die nicht überwachten Zeiten; wir alle schützen uns vor uns selbst. Das ist eines unserer ausgeprägteren Talente.«
»Das wäre über Stockholm. Wir übergehen Helsinki!« Maletkins Gesicht rötete sich; die Erregung, die er empfand, und der Alkoholgenuß hatten ihn unvorsichtig gemacht. Er hatte nicht beabsichtigt, die schwedische Verbindung preiszugeben. So etwas tat man nicht, selbst nicht unter Überläufern.
Ebensowenig konnte Wassili Stockholm benutzen. Das Kabel würde dann von den Amerikanern abgefangen werden. Es gab eine andere Möglichkeit.
»Wie oft kommen Sie für die Sektorkonferenz hierher ins Ligovsky-Hauptquartier?«
Der Verräter verzog verlegen die Lippen. Die Frage war ihm peinlich. »Nicht oft. Im Laufe des vergangenen Jahres vielleicht drei- oder viermal.«
»Dann gehen Sie jetzt hinüber«, entschied Taleniekov. »Was? Sie müssen Ihren Kopf verloren haben!«
»Sie werden den Ihren verlieren, wenn Sie es nicht tun. Keine Sorge, Oberst. Rang hat immer noch seine Privilegien und seinen Nutzen. Sie schicken ein dringendes Kabel an einen Mann aus Vyborg in Helsinki. Weiße Leitung, ohne Kopie. Aber mir müssen Sie eine Bestätigungskopie bringen.«
»Angenommen, die fragen in Vyborg zurück?«
»Wer von den Leuten, die dort Dienst machen, würde wohl dem stellvertretenden Leiter in die Quere kommen?«
Maletkin runzelte nervös die Stirn. »Aber später wird man Fragen stellen.«
Wassili lächelte; in seiner Stimme klang das Versprechen üppiger Reichtümer. »Glauben Sie mir, Oberst. Wenn Sie nach Vyborg zurückkehren, wird es nichts geben, was Sie nicht haben… oder befehlen… oder können.«
Der Verräter grinste; die Schweißtropfen auf seinem Kinn glänzten. »Wohin soll ich die Bestätigungskopie bringen? Wo treffen wir uns? Wann?«
Taleniekov hielt sich die Mullbinde über die Wunde am Hals, rollte einen Streifen Heftpflaster ab und nahm das eine Ende in den Mund.
»Reißen Sie ab«, sagte er zu Maletkin. Dieser gehorchte. Wassili klebte sich das Pflaster an und riß dann einen zweiten Streifen ab.
»Verbringen Sie die Nacht im Evropei-skaya-Hotel an der Brodsky-Straße. Ich werde Sie dort treffen.«
»Die werden meine Papiere sehen wollen.«
»Dann geben Sie sie ihnen. Ein Oberst des KGB bekommt ohne Zweifel ein besseres Zimmer. Ein besseres Mädchen auch, wenn Sie in die Halle gehen.«
»Die kosten beide Geld.«
»Ich lade Sie ein«, sagte Taleniekov.
Es war Abendessenszeit. Die mächtigen Lesesäle der Saltykov-Schschtedrin-Bibliothek mit ihren gobelinbehängten Wänden und den enorm hohen Decken waren bei weitem nicht so überfüllt, wie das üblich war. An den langen Tischen saßen verstreut einige Studenten. Ein paar Touristengruppen schlenderten herum, studierten die Gobelins und die Ölgemälde und unterhielten sich, beeindruckt von soviel Prunk, nur im Flüsterton.
Während Wassili durch die Marmorhallen auf den Bürokomplex im Westflügel zuging, erinnerte er sich an die Monate, die er in diesen Räumen – jenem Raum – verbracht hatte. Hier hatte sein Verstand Zugang zu einer Welt gefunden, von der er so wenig gewußt hatte. Er hatte Lodzia gegenüber nicht übertrieben; es war hier, wo er dank dem aufgeklärten Mut eines Mannes mehr über den Feind gelernt hatte als während der ganzen Ausbildung später in Moskau und Nowgorod.
Die Saltykov-Schschtedrin war die Schule, die ihm am meisten gegeben hatte. Der Mann, den er jetzt nach so vielen Jahren wiedersehen würde, war der Lehrer, dem er am meisten verdankte. Ob die Schule oder der Lehrer ihm jetzt würden helfen können? Wenn die Voroschin-Familie an die neuen Matarese gebunden war, würde in den Datenspeichern der Abwehr keine Information zu finden sein, die ihm Aufschluß gab; dessen war er sicher. Aber war sie hier? Irgendwo, in den Tausenden von Bänden, die die Ereignisse der Revolution enthielten, waren Daten von
Weitere Kostenlose Bücher