Der Matarese-Bund
Familien, die man verbannt, riesigen Ländereien, die man in kleine Stücke aufgeteilt hatte; alles war von den Historikern jener Zeit aufgezeichnet und dokumentiert worden, weil sie wußten, daß man diese Zeit nie wieder sehen würde, jenen explosiven Anfang einer neuen Welt. Hier in Leningrad war es geschehen – Sankt Petersburg –, und Fürst Andrei Voroschin war Teil jenes Umsturzes. Die Revolutionsarchive von Saltykov-Schschtedrin waren die ausführlichsten von ganz Rußland. Wenn irgendwo Informationen über die Voroschins ruhten, dann hier. Aber hierzusein, war eine Sache, etwas zu finden, eine völlig andere. Würde sein alter Lehrer, der väterliche Freund, wissen, wo er nachsehe n mußte?
Er bog nach links in den Korridor, den Bürotüren mit eingesetzten Glasscheiben säumten, die alle dunkel waren, mit Ausnahme einer einzigen am Ende des Ganges. Hinter ihr brannte ein schwaches Licht, das immer wieder von der Silhouette einer Gestalt abgedunkelt wurde, die vor einer Schreibtischlampe auf und ab ging. Es war Mikovskys Büro; derselbe Raum, in dem er sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert aufhielt. Die Gestalt, die sich langsam hinter dem Riffelglas hin und her bewegte, war unverkennbar die des Gelehrten.
Er ging auf die Türe zu und klopfte leise; gleich darauf erschien die dunkle Gestalt hinter dem Glas.
Die Türe öffnete sich. Janov Mikovsky stand da; das faltige Gesicht war von der Kälte draußen immer noch gerötet, die Augen hinter den dicken Gläsern seiner Brille weit, fragend und verängstigt. Er winkte Wassili zu, schnell hereinzukommen, und schloß die Türe in dem Augenblick, in dem Taleniekov das Büro betreten hatte.
»Wassili Wassiliewitsch!« Die Stimme des alten Mannes war halb ein Flüstern, halb ein Schrei. Er breitete die Arme aus, umarmte den jüngeren Freund. »Ich hätte nie gedacht, daß ich dich wiedersehen würde.« Er trat zurück, die Hände immer noch auf Taleniekovs Mantel, blickte zu ihm auf; sein verrunzelter Mund bildete Worte, die nicht herauskamen. Die Ereignisse der letzten halben Stunde waren mehr gewesen, als er verarbeiten konnte. Stockende Laute entrangen sich ihm, aber keine Worte.
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte Wassili in dem Bemühen, den alten Mann zu beruhigen. »Es ist alles gut.«
»Aber warum? Warum diese Geheimnistuerei? Dieses Hin-und Herrennen? Ist das nötig? Von allen Menschen in der ganzen Sowjet… du. Die ganze Zeit, die du in Riga warst, hast du mich nie besucht. Aber von anderen habe ich gehört, welchen Respekt man dir entgegenbrachte, wie du die Verantwortung für so viele Dinge übertragen bekamst.«
»Es war besser, daß wir uns in jenen Tagen nicht sahen. Das habe ich Ihnen am Telefon gesagt.«
»Ich habe es nie verstanden.«
»Es waren nur Vorsichtsmaßnahmen, die mir seinerzeit vernünftig erschienen.« Sie waren mehr als vernünftig gewesen, dachte Taleniekov. Er hatte erfahren, daß der Gelehrte zu trinken begonnen hatte, deprimiert vom Tod seiner Frau. Wenn man den Leiter von KGB Riga bei dem alten Mann gesehen hätte, dann hätten die Leute vielleicht angefangen, nach anderen Dingen zu suchen. Und hätten sie gefunden.
»Das ist jetzt gleichgültig«, sagte Mikovsky. »Es war eine sehr schwere Zeit für mich, aber das hat man dir sicher gesagt.
Es gibt eine Zeit, in der man manche Männer alleine lassen sollte, selbst alte Freunde sollten sich dann fernhalten. Aber dies ist jetzt eine andere Zeit! Was ist mit dir passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte, ich werde Ihnen alles erzählen, was ich kann. Das muß ich, denn ich brauche Ihre Hilfe.« Taleniekov blickte an dem Gelehrten vorbei, rechts vom Schreibtisch stand ein Wasserkessel auf einer Kochplatte. Wassili war nicht sicher, aber er glaubte, daß es derselbe Kessel war, dieselbe Kochplatte, an die er sich über so viele Jahre hinweg erinnerte. »Ihr Tee war immer der beste in Leningrad. Machen Sie welchen für uns?«
Fast eine halbe Stunde verstrich, während Taleniekov berichtete. Der alte Gelehrte saß in seinem Stuhl und hörte schweigend zu. Als Wassili zum erstenmal den Namen Fürst Andrei Voroschin erwähnte, sagte er nichts. Aber als sein alter Schüler dann fertig war, meinte er:
»Die Ländereien der Voroschins wurden von der neuen Revolutionsregierung konfisziert. Der Besitz der Familie war von den Romanows und ihren industriellen Partnern stark reduziert worden. Nikolaus und sein Bruder Michael verabscheuten die Voroschins. Sie behaupteten,
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