Der Matarese-Bund
ungewöhnlich, selbst die an diesem Tage herrschende Temperatur und die Farbe des Nachmittagshimmels ist angegeben; auch daß die Männer auf dem Dach Pelzmäntel trugen. Aber kein einziger Name. Nur die Voroschins sind namentlich erwähnt, sonst niemand.«
Der Wissenschaftler legte die Finger auf eine vergilbte Seite; seine alten Augen flogen über die Zeilen. Seine Lippen waren erstaunt geöffnet.
»Du hast recht. Hier stehen so viele Einzelheiten, daß man auf den ersten Blick gar nicht bemerkt, daß spezielle Informationen fehlen.«
»So ist es immer«, nickte Taleniekov. »Die ›Exekution‹ der Familie Voroschin war ein Schwindel. Sie hat nie stattgefunden.«
25
»Dieser junge Mann, den Sie mir da geschickt haben, war unmöglich«, sprach Mikovsky in den Telefonhörer. Seine Stimme mußte für den diensthabenden Beamten im Ministerium für kulturelle Angelegenheiten hart und kritisch klingen. »Ich habe ihm deutlich klargemacht – ebenso wie ich annehme, daß Sie das getan haben –, daß er in den Archiven bleiben sollte, bis das Material zurück war. Und was meinen Sie, finde ich? Der Mann verschwunden und der Schlüssel unter meiner Türe! Wirklich, das ist sehr unkorrekt. Ich schlage vor, daß Sie jemanden herschicken, um ihn abzuholen.«
Der alte Gelehrte legte schnell auf und nahm damit dem Beamten jede Möglichkeit, noch etwas zu sagen. Er blickte erleichtert zu Taleniekov auf.
»Mit dieser Leistung hätten Sie sich bei Stanislavsky ein Belobigungsschreiben eingehandelt«, lächelte Wassili und wischte sich die Hände an einem Papierhandtuch, das er aus dem Waschraum geholt hatte. »Wir sind jetzt abgesichert – Sie sind abgesichert. Vergessen Sie nicht, man wird hinter den Öfen eine Leiche ohne Papiere finden. Wenn man Sie fragt, wissen Sie nichts, Sie haben ihn noch nie zuvor gesehen; die einzige Reaktion, die Sie zeigen, ist Schock und Erstaunen.«
»Aber im Ministerium wird man ihn doch kennen!«
»Ganz bestimmt nicht. Er war ja nicht der Mann, den man mit dem Schlüssel hierhergeschickt hat. Das Ministerium wird selbst sein Problem haben, ein recht ernstes sogar. Es wird den Schlüssel haben, aber keinen Boten mehr. Wenn dieses Telefon immer noch abgehört wird, dann vermutet der Lauscher jetzt, daß sein Mann Erfolg hatte. Wir haben Zeit gewonnen.«
»Wofür?«
»Ich muß nach Essen.«
»Essen. Auf eine reine Annahme hin, Wassili? Eine Vermutung?«
»Das ist mehr als eine Vermutung. Zwei der Namen, die in dem Voroschin-Bericht erwähnt waren, haben eine Bedeutung. Schott und von Bohlen-Halbach. Friedrich Schott ist von den deutschen Gerichten kurz nach dem Ersten Weltkrieg wegen illegaler Geldüberweisungen ins Ausland verurteilt worden; er ist im Gefängnis noch in der Nacht seiner Einlieferung getötet worden. Dieser Mord stand damals in allen Zeitungen, die Täter wurden nie gefunden. Ich nehme an, daß er einen Fehler begangen hat und die Matarese ihn deshalb zum Schweigen gebracht haben. Gustav von Bohlen-Halbach heiratete die einzige Überlebende der Familie Krupp und übernahm die Leitung der Krupp-Werke. Wenn das vor einem halben Jahrhundert Voroschins Freunde waren, könnten sie ihm sehr viel geholfen haben. Es paßt alles zusammen.«
Mikovsky schüttelte den Kopf. »Du suchst fünfzig Jahre alte Gespenster.«
»Nur in der Hoffnung, daß diese Gespenster mich zu etwas Greifbarem in der Gegenwart führen. Daß es das gibt, weiß ich ganz sicher. Brauchen Sie denn weitere Beweise?«
»Nein. Ihre Existenz ist es, die mir um deinetwillen angst macht. Ein Engländer erwartet dich in irgendeiner Wohnung, mir folgt eine Frau, ein junger Mann kommt mit einem Schlüssel hier an, den er einem anderen gestohlen hat. Und alle gehören zu diesen Matarese. Mir scheint, die haben dich in die Enge getrieben.«
»Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, haben sie das auch. Sie haben meine Akten studiert und ihre Soldaten ausgesandt, um jeden Schritt zu überwachen, den ich unternehme. Dabei gehen sie natürlich davon aus, daß, wenn ich einem entgehe, mich der andere finden wird.«
Der Gelehrte nahm die Brille ab. »Wo finden sie denn solche… Soldaten, wie du sie nennst? Wo gibt es denn so hoch motivierte Männer und Frauen, die so bereitwillig ihr Leben opfern?«
»Die Antwort darauf ist vielleicht schrecklicher, als einer von uns beiden sich vorstellen kann. Die Wurzeln führen Jahrhunderte in die Vergangenheit, zu einem islamischen Fürsten namens Hassan Ibn-al-Sabbah. Er bildete
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