Der Matarese-Bund
dachte Taleniekov. »Also vier Uhr, Genosse.«
Wassili ging auf die Treppe des Gebäudes zu, das vier Häuser von Lodzias Wohnung entfernt war. Er hatte zu den Fenstern nach oben gesehen; es brannte Licht. Sie war zu Hause.
Er ging langsam die Treppe hinauf, wie ein müder Mann das tun würde, der in ein ungemütliches Heim zurückkehrt, nachdem er unbezahlte Überstunden hinter einem endlosen Band geleistet hat, für irgendeinen neuen Wirtschaftsplan, den niemand begriff. Er öffnete die Glastür und betrat die kleine Vorhalle.
Im gleichen Augenblick richtete er sich auf, die Vorstellung war vorbei; da war jetzt kein Zögern mehr. Er öffnete die innere Tür, ging zur Kellertreppe und stieg in die düstere Tiefe. Er kam an der Tür vorbei, hinter der er den toten Engländer verstaut hatte, nachdem er ihn mit Wodka übergössen und ihm die Handgelenke mit einer Rasierklinge aufgeschlitzt hatte. Er holte sein Feuerzeug heraus, schnippte es an und schob die Tür zurück.
Der Engländer war verschwunden. Nicht nur verschwunden, sondern da waren auch keinerlei Blutspuren; alles war sauber geschrubbt.
Taleniekov erstarrte. Etwas Schreckliches war geschehen. Er hatte unrecht gehabt.
Völlig unrecht!
Und doch war er sicher gewesen. Die Soldaten der Matarese waren ersetzbar, aber das letzte, was sie tun würden, war, an den Schauplatz von Gewalt zurückzukehren. Die Gefahr, in eine Falle zu tappen, war zu groß: dieses Risiko würden, konnten die Matarese nicht eingehen!
Und doch hatten sie es getan, weil das Zielobjekt das Risiko rechtfertigte. Was hatte er nur getan?
Lodzia!
Er ließ die Tür offenstehen und eilte durch die miteinander verbundenen Keller, die Graz-Burya in der Hand, die Schritte lautlos, Blick und Gehör geschärft.
Er erreichte Lodzias Gebäude und eilte die Treppe hinauf ins Erdgeschoß. Langsam zog er die Türe zurück und lauschte; aus dem Treppenhaus über ihm war Gelächter zu hören. Eine Frauenstimme, in die sich kurz darauf das Lachen eines Mannes mischte.
Wassili schob die Graz-Burya in die Tasche, ging innen um das Geländer herum und stieg dann schwankend hinter dem Paar die Treppe hinauf. Sie näherten sich dem Treppenabsatz im ersten Stock, schräg gegenüber von Lodzias Tür. Taleniekov sprach sie mit einem dümmlichen Grinsen an.
»Würden die jungen Leute einem älteren Liebhaber einen Gefallen tun? Ich fürchte, ich hab' einen Wodka zuviel getrunken.«
Das Paar drehte sich zu ihm um; beide lächelten. »Was haben Sie denn für ein Problem, Freund?« fragte der junge Mann.
»Meine Freundin ist das Problem«, sagte Taleniekov und deutete auf Lodzias Tür. »Ich sollte mich nach der Vorstellung im Kirov mit ihr treffen. Dann hat mich ein alter Genosse aus der Militärzeit aufgehalten. Ich denke, sie ist wütend. Bitte, klopfen Sie für mich; wenn sie meine Stimme hört, läßt sie mich wahrscheinlich nicht hinein.« Wieder grinste Wassili, während seine Gedanken das schiere Gegenteil seines Lächelns waren. Je älter man wurde, desto schmerzlicher wurde es, junge Leute zu opfern.
»Das ist das mindeste, was wir für einen Soldaten tun können«, sagte das Mädchen und lachte. »Komm schon, Mann, tu etwas für das Militär.«
»Warum nicht?« Der junge Mann zuckte die Achseln und ging auf Lodzias Türe zu. Taleniekov ging an ihr vorbei, den Rücken der Wand zugewandt, die rechte Hand wieder in der Tasche. Der Mann klopfte.
Von drinnen war kein Laut zu hören. Er sah zu Wassili hinüber; der nickte und deutete damit an, der andere sollte es noch einmal versuchen. Wieder klopfte der junge Mann, diesmal lauter, beharrlicher. Wieder war nur Schweigen.
»Vielleicht wartet sie immer noch im Kirov auf Sie«, sagte das Mädchen.
»Andererseits«, fügte der junge Mann hinzu und lächelte, »hat sie vielleicht Ihren alten Armeegenossen gefunden, und jetzt weichen beide Ihnen aus.«
Taleniekov versuchte, das Lächeln zu erwidern, schaffte es aber nicht. Er wußte nur zu gut, was er vielleicht hinter der Türe finden würde. »Ich werde hier warten«, sagte er. »Vielen Dank.«
Der Mann schien jetzt zu erkennen, daß er im falschen Augenblick witzig gewesen war. »Tut mir leid«, murmelte er und griff nach dem Arm seiner Frau.
»Viel Glück«, sagte das Mädchen etwas verlegen. Und dann eilten beide die Treppe hinauf.
Wassili wartete, bis er zwei Stockwerke über sich hörte, wie eine Türe geschlossen wurde. Dann holte er die Automatik aus der Tasche und griff nach dem
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