Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur
gegenwärtigen Schöpfung, also noch vor dem Jahr 3114 v. Chr., als die Urmutter geboren wurde, auf die sich die Herrscher von Palenque dynastisch berufen. (Nebenbei erweist sich hier auch die verbreitete Auffassung des absoluten Nullpunkts des Maya-Kalenders als unzutreffend. Das Schöpfungsdatum ist wie Christi Geburt in unserem Kalender ein Meilenstein und würdig als Ausgangspunkt für eine Chronologie, gleichwohl aber eingebettet in viel umfänglichere Zeitdimensionen.) Der Kunstgriff bestand darin, die wichtigen Daten so zu »frisieren« (oder besser gesagt, die kalendarisch passenden Daten zu erfinden), dass sie kalendarische Bezüge zueinander erhielten, die zum einen dynastische Beweiskraft aufwiesen, zum anderen mit arithmetisch-kalendarischen Rechnungen die Erwähltheit des Herrschers und seiner Familiebelegen sollten. Hier tritt klar zutage, wie Religion und Macht in ihrem Zusammenspiel auf jenes Instrument verweisen, das sie ideologisch verbindet: die Kalenderrechnung. Je vielfältiger die Bezüge eines Tages oder, wie im vorliegenden Fall, die kalendarischen Bezüge zwischen zwei Daten, desto heiliger der sich darin offenbarende Zeitaspekt und damit die propagandistische, machterhaltende Ausbeute. Untermauert wird der Anspruch der rechtmäßigen Erbfolge vor allem durch den kalendarischen Winkelzug, demzufolge Pakals Geburtsdatum in direktem kalendarischem Bezug zum Geburtsdatum einer Göttin aus der Göttertriade von Palenque steht. Ähnlich vermessen führten sich europäische Herrscherhäuser im Mittelalter und in der Renaissance geradewegs auf mythische Ahnen zurück – König David oder Noah, das Herrscherhaus von Troja oder gar den Erstmenschen Adam. Die Maya strengten sich allerdings erheblich mehr an als ihre europäischen Kollegen, um ihre ehrgeizige Familiengeschichte plausibel zu machen, und sie taten es mittels des Kalenders und einer weit entwickelten Mathematik, die die Bezüge vorgeblich unanfechtbar darstellte.
Pakal und die Urmutter-Göttin trennt in ihrem (angeblichen) Geburtstag zwar die Kleinigkeit von fast 3725 Sonnenjahren. Trotzdem heißen beide Geburtstage 8 Ajaw , haben also dieselbe Tagesbezeichnung im Tzolk’in und darüber hinaus im Venus- und im Mondjahr dieselbe Position. Außerdem ist die Abstandszahl zwischen beiden Geburtstagen, jene fast 3725 Sonnenjahre oder 1 359 540 Tage, glatt durch verschiedene Zyklen teilbar. Wir können die enormen mathematischen Feinheiten hier nicht weiter verfolgen, sondern nur staunend konstatieren, welch gelehrter Aufwand getrieben wurde, um Geburtsdaten zu finden, die miteinander derart anspruchsvoll in kalendarischer Beziehung stehen. Denn mit jedem numerologisch sinnfälligen Bezug stieg das Gewicht der politischen Aussage.
Hinzu kommen architektonische und ikonografische Bezüge zu den Göttern, die Kan Balam als Ahnen reklamierte. Übrigens ist diese elaborierte propagandistische Fälschung nicht die einzige, die Pakals Sohn in Stein festhalten ließ. Auch für seine eigene Thronfolge hatte er eine schier erdrückende kalendarische Beweislast parat, für die er darüber hinaus noch Herrscher heranzog, die er eigens zu diesem Zweck erfinden musste, denn zu ihrer angeblichen Regierungszeit konnte vom Herrscherhaus von Palenque noch nicht die Rede sein: Es handelt sich um die Blütezeit der Olmeken zu Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. Darin ähnelt er in seiner Argumentation ebenfalls seinen europäischen Kollegen, die Vorfahren ins Spiel brachten, deren Existenz zwar unglaubwürdig, aber nicht widerlegbar war, weil der Zeitraum schon zu lange zurücklag, um eine sinnvolle Überprüfung zu gewährleisten. Und wie anderswo verfing die zweifelhafte Argumentation nicht zuletzt deshalb, weil sie ein Bedürfnis der Menschen befriedigte: Je länger die Ahnenreihe, desto größer die Kontinuität – das war bereits ein Wert an sich – und desto besser die Anbindung an die »alte Zeit«, in der alles seine Ordnung hatte, so die europäische Sicht der Dinge. Im Falle von Pakal und Kan Balam und nach der Weltsicht der Maya war entscheidend, dass die Ahnenreihe bis in die Zeit der Götter zurückreichte und damit das Gottkönigtum der beiden legitimiert war. Es war nichts weniger als der Anspruch, als direkter Nachkomme der Götter die heroischen Zeiten wiederzubringen. Zusätzliches Argument dabei war die höchst weltliche Tatsache, dass unter Pakal und Kan Balam Palenque zu seinem größten Ruhm aufstieg – und überaus selbstbewusst
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