Der Medicus von Heidelberg
Berka. »Ein Mensch, der nicht verzeihen kann, hat keine Seele.«
»Das finde ich auch. Ich will noch einmal nach ihr sehen. Bin gleich zurück.«
Schnapp und ich gingen zu der kleinen Kammer neben dem Behandlungsraum und traten nach kurzem Klopfen ein. Lilott lag vollständig bekleidet auf ihrem Bett und blickte mir entgegen. »Ich habe gewusst, dass Ihr kommt, Herr.«
»Nun« – ich räusperte mich – »da wusstest du mehr als ich. Immerhin freue ich mich, dass du wieder da bist. Wir alle haben uns Sorgen um dich gemacht.«
»Wirklich?«
»Wenn ich es sage.«
»Das hätte ich nicht gedacht.«
»Aber es ist so.«
Unsere Unterhaltung erstarb. Lilott starrte zur Decke, und ich wollte schon gehen, da richtete sie sich plötzlich auf. »Würdet Ihr mir helfen, Herr?«
»Helfen, wobei?«, fragte ich.
Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Vielleicht war es doch kein guter Einfall.«
»Wovon sprichst du?«
»Lasst nur, Herr.«
»Hör mal, Lilott, kennst du den schönen Satz: Wer die Lippen spitzt, muss auch pfeifen? Also bitte, wobei soll ich dir helfen?«
»Ach, ich dachte nur, es wäre … nun, ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn ich Vater und Mutter in meine Kammer nähme. Ich könnte sie dann besser …«
»… pflegen?«
»Ja. Ich würde einfach so tun, als wäre das … nicht vorgefallen.«
»Das freut mich«, sagte ich und meinte es ehrlich. »Deine Eltern haben sicher sehr viel für dich getan, bis auf diese eine, äh, Entgleisung. Das darfst du nicht vergessen.«
»Ja, Herr, das hat Hinz auch gesagt.«
»Magst du ihn?«
»Er ist mir völlig einerlei.«
»Dann ist es ja gut.« Ich konnte nicht behaupten, mich beim schönen Geschlecht gut auszukennen, doch so viel glaubte ich zu wissen: Wenn eine Frau sagte, jemand sei ihr einerlei, meinte sie genau das Gegenteil. »Dann wollen wir deinen Eltern jetzt ein Lager bereiten und sie herübertragen.«
Und so geschah es.
Der nächste Tag verlief in Harmonie, sofern man von Harmonie sprechen kann, wenn man von Krankheit und Tod umgeben ist.
Lilott wich nicht von der Seite ihrer Eltern und pflegte sie hingebungsvoll. Ab und zu brachten Hinz oder ich ihr Wasser und frische Tücher, und bei einer dieser Gelegenheiten belauschte ich ein Gespräch zwischen ihr und ihrem Vater. Ich tat es unbeabsichtigt, denn die Tür stand einen Spalt offen. Der alte Mann flüsterte mühsam: »Ist Mutter schon tot?«
Lilott weinte.
»Hab’s geahnt. Sie ist … gegangen … vor mir, wie ich’s immer wollte.«
Es folgte eine längere Pause, nur unterbrochen von Lilotts Schluchzen.
»Weine nicht, meine Kleine … Mutter …« Die Stimme erstarb.
»Um Gottes willen, Vater, so rede doch! Rede doch weiter. Bitte, bitte …« Lilotts Worte ertranken in einem Meer von Tränen.
Ich wollte mich schon abwenden, da hörte ich den Vater wieder: »… sie ist glücklich gestorben. Und ich … werde auch glücklich sterben.«
»Das darfst du nicht, hörst du! Bitte, Vater, bitte!«
»Du hast uns vergeben, Kind …«
»Ja, Vater, ja, das habe ich!«
»Gelobt sei … Jesus Christus …«
Das Gespräch erstarb. Auf leisen Sohlen schlich ich davon. Später am Tag, als ich glaubte, es sei genug Zeit vergangen, ging ich in Lilotts Kammer und sah sie dort an der Seite ihrer toten Eltern trauern. Hinz war bei ihr. Er hatte den Arm beschützend um sie gelegt. Es sah aus, als wolle er sie nie wieder loslassen.
»Mein aufrichtiges Beileid, Lilott«, sagte ich.
Sie blickte auf. Ihre Augen waren gerötet und verweint. »Ich bin so traurig, Herr. Ich glaube, ich werde nie wieder in meinem Leben lachen können.«
»Sind deine Eltern nicht glücklich gestorben?«, fragte ich.
»Doch, ich glaube schon.«
»Wie kannst du dann traurig sein?«
»Aber sie sind tot!«
»Sie werden leben. Sie werden ewig leben, sobald sie in das Reich Gottes eingegangen sind, denn du hast ihnen verziehen.«
Lilott schniefte und schluckte schwer. »Ich bin Euch so dankbar, Herr, wenn Ihr nicht gewesen wäret …« Sie griff nach meiner Hand und wollte sie küssen, aber ich entzog sie ihr und sagte: »Hinz, sei so gut und versuche, irgendwo Vater Eusebius aufzutreiben.«
Vater Eusebius war ein alter Priester, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, einmal am Tag vorbeizuschauen, um die Krankensalbung an den Sterbenden vorzunehmen. Da er meistens zu spät kam und die Erkrankten schon für immer die Augen geschlossen hatten, fragte ich ihn einmal, ob es ihn wehmütig
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