Der Medicus von Heidelberg
dem ich ihre Genesung erflehte.
»Du machst das wie ein richtiger Priester«, flüsterte Thérèse voll Bewunderung.
»Danke«, flüsterte ich zurück und dachte: Ich würde viel lieber ein richtiger Medicus sein.
In der Nacht fand Gertrud nur wenig Schlaf, obwohl das Laudanum, eine Mixtur aus Alkohol und dem Saft der Mohnkapsel, ihr weitgehend die Schmerzen nahm. Thérèse und ich versuchten immer wieder, sie zum Trinken zu überreden, aber sie lehnte beharrlich ab. »Wenn ich auch nur einen Tropfen trinke, platze ich«, krächzte sie. »Hab einen Bauch wie ’ne Trommel.«
Mehrere Male verließ ich die Kammer, weil ich hoffte, Gertrud wäre in der Lage, das Nachtgeschirr zu benutzen, aber jedes Mal, wenn ich wieder hineinging, schüttelte Thérèse bedauernd den Kopf. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich abermals zu den beiden zu setzen, auszuharren, zu hoffen und zu beten.
Gegen Morgen ließ die Wirkung des Laudanums nach, die Schmerzen kamen wieder mit brutaler Kraft. Gertrud nahm erneut ihre gekrümmte Haltung ein, ein kleines, verzweifeltes Bündel Mensch, von unsäglicher Pein gemartert. Ich ließ noch einmal nach dem Bader schicken, der trotz der frühen Stunde sofort erschien. Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, wie aussichtslos die Lage war. »Jetzt hilft nur noch eines«, sagte er. »Sorgt dafür, dass das Mütterchen auf den Kopf gestellt und gehörig durchgeschüttelt wird. Vielleicht lockert sich dann der Stein, vielleicht zerfällt er auch. Es wäre eine Gnade. Doch wir können nicht wissen, was Gott mit dieser Frau vorhat.«
Er gab mir eine weitere Dosis Laudanum, ohne dass ich dafür bezahlen musste, und empfahl sich.
Als er fort war, sorgte ich dafür, dass einige kräftige Frauen des Gesindes in Gertruds Zimmer kamen und die Behandlung an ihr durchführten. Während der Prozedur standen Thérèse und ich draußen auf dem Gang und mussten Gertruds Schreien, Keuchen und Röcheln untätig mit anhören. Es war furchtbar. Irgendwann konnte ich es nicht länger ertragen und sagte zu Thérèse: »Gehe hinein und mache dem ein Ende. Und dann rufe mich. Ich werde Gertrud nochmals eine Dosis von dem Laudanum geben.«
Und so geschah es. Gertrud ging es kurze Zeit später wieder besser. Sie stand von ihrem Lager auf und krächzte: »Sag dem Steisser und seiner Frau Bescheid, wir fahren in einer halben Stunde.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte ich.
Gertrud schaute mich an. Mit leiser Stimme sagte sie: »Bitte, Lukas. Die Straße … ach, das verstehst du nicht.«
»Was verstehe ich nicht?«
»Nun, die Straße … ruft mich.«
Ich verstand zwar noch immer nicht ganz, aber ich ging zu dem dicken Zunftmeister und sagte ihm, er solle seine Sachen packen, wir führen in Kürze weiter. Er fragte in seiner herrischen Art, ob Gertrud überhaupt in der Lage sei, die Zügel zu halten, und ich antwortete, das sei sie, obwohl ich selbst nicht daran glaubte. Umso überraschter war ich, als ich sie wenig später bei der Kutsche antraf, wo sie mit fachkundigem Blick den Zustand der Räder und Naben überprüfte – so, wie sie es jeden Morgen vor der Abfahrt tat. »Ich hab schon beim Wirt bezahlt«, krächzte sie. »Steig auf.«
»Ich will nicht, dass du für mich bezahlst«, sagte ich.
»Keine Widerrede. Steig auf.«
Ich gehorchte und wartete zusammen mit Schnapp auf dem Kutschbock, bis Thérèse, Steisser und seine Frau erschienen.
»Hüa!«, rief Gertrud. »Auf geht’s!« Sie klang dabei, als wäre sie nie krank gewesen.
Wir verließen den Alten Marktplatz von Offenburg, fuhren aus der Stadt hinaus und nahmen den breiten Handelsweg nach Norden. Unser nächstes Ziel hieß Baden, ein Ort mit einer berühmten Thermalquelle, von der ich mir erhoffte, sie könnte Gertrud helfen. Doch bis wir dort waren, würden noch drei Tage vergehen. Ob Gertrud so lange durchhalten konnte? Sie saß auf dem Kutschbock wie immer, nur ihr Blick, gewöhnlich aufmerksam und scharf beobachtend, war anders als sonst. Nachdenklicher, in sich gekehrter. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.
Das Wetter meinte es auch an diesem Tag gut mit uns, und wir kamen rasch voran. Während einer kurzen Mittagsrast nutzte ich die Gelegenheit und gab Gertrud eine winzige Menge Laudanum. Zunächst wollte sie die Medizin nicht, aber ich bestand darauf.
Auch am Nachmittag blieb es schön. Thérèse stimmte irgendwann ein Lied an, und Gertrud summte mit. Fast konnte man glauben, mit ihr sei alles wieder
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