Der Medicus von Heidelberg
Kutschbock, das Faltengesichtchen schmerzverzerrt, Wortfetzen vor sich hin brummelnd, Trost und Zuspruch hartnäckig abwehrend. Ich schlug eine Rast vor, damit sie sich hinlegen und entspannen könne, doch sie schüttelte den Kopf. Auch mein Angebot, ihr die Zügel abzunehmen und die Kutsche zu lenken, stieß auf taube Ohren. »Eine Kutsche lenken? Hast du so was schon mal gemacht?«, fragte sie unter Stöhnen.
»Nein, aber du könntest es mir zeigen.«
»Nicht nötig. Von einem Zipperlein lass ich mich nicht umwerfen.«
Und doch trat wenig später genau das ein. Gertrud stieß plötzlich einen Schrei aus, bäumte sich auf und sank wimmernd auf Thérèses Schoß. »Ach Gott, ach Gott …«
Angstvoll beobachteten Thérèse und ich die alte Frau. Steisser steckte den Kopf aus dem Fenster, blickte zu uns hoch und begehrte zu wissen, was los sei. Er habe Schreie gehört, ob Gefahr im Verzuge sei, er wolle …
Ich wies ihn grob zurecht, er solle das Maul halten, und wandte mich wieder Gertrud zu. Nach einiger Zeit schienen ihre Schmerzen nachzulassen. Sie richtete sich auf und schniefte ein paarmal. »Es war nichts«, krächzte sie. »Macht euch keine Gedanken. Weiter geht’s.«
Mit einer müden Bewegung ließ sie die Peitsche knallen. Castor und Pollux zogen an. Wir waren wieder unterwegs. Der Tag war mild und die Luft noch feucht von dem in der Nacht niedergegangenen Regen. Die Farben der Natur wirkten wie frisch geputzt. Doch ich hatte keinen Blick für die Schönheiten der Ortenau. Zu oft musste ich an Gertrud denken. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber, aber sie saß da, als wäre nichts geschehen. Nach einer Weile krächzte sie: »Mir geht’s gut, brauchst mich gar nicht so anzuglotzen.«
»Ich mache mir Sorgen, Gertrud.«
»Mir geht’s gut, verstehst du? Könnt mir gar nicht bessergehen.«
»Natürlich.« Ich wechselte einen Blick mit Thérèse, die vielsagend mit den Schultern zuckte. Um das Thema zu wechseln, fragte ich: »Ist es noch weit bis Offenburg?«
»Nicht weit.«
Gertrud sollte recht behalten, denn kurz darauf erreichten wir die ersten Häuser von Offenburg. Sie lenkte die Kutsche zum Alten Marktplatz und machte vor dem angrenzenden Wirtshaus halt. Es hieß
Zum Skythischen Lamm,
und wir richteten uns darin ein. Trotz Gertruds Protest bestand ich darauf, dass Thérèse mit ihr eine Kammer teilte, denn nach wie vor machte ich mir Sorgen um die alte Frau. Nach einem einfachen Mahl aus Brot und Pastinaksuppe gingen wir alle frühzeitig zur Ruhe.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Schnapp, der neben mir auf der Kutschbank lag, hatte mir das Gesicht geleckt und dabei gewinselt. Ich fragte mich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Unsinn, sagte ich mir, schlaf weiter! Doch ich fand keine Ruhe. Wie es wohl Gertrud ging? Gewiss schlief sie tief und fest. Und doch … Leise erhob ich mich, befahl Schnapp, er solle brav sein und auf mich warten, und schlich hinüber ins Haus. Ich stieg die knarrenden Stufen in den Oberstock empor und öffnete behutsam die Tür zu Gertruds Kammer. Sehen konnte ich nicht viel, aber die leisen Schnarchgeräusche, die zweifellos von Gertrud stammten, beruhigten mich. Neben ihr im Bett lag Thérèse, ebenfalls schlummernd. Ich schalt mich einen Angsthasen und Schwarzmaler, schloss die Tür wieder und schlich erleichtert den Weg zurück, wobei ich fast die Stiege hinuntergefallen wäre, denn das einzige Licht, das mir den Weg wies, war das Mondlicht. Glücklich wieder in meiner Kutsche angekommen, deckte ich mich und Schnapp zu und war alsbald wieder eingeschlafen.
Ich träumte, jemand riefe mich beim Namen: »Lukas! … Lukas!« Und noch einmal: »Lukas!« Der Rufer klang wie Thérèse, und langsam dämmerte es mir, dass ich nicht geträumt hatte, sondern dass Thérèse neben mir saß und mich die ganze Zeit schüttelte. »So wach doch auf! Ich glaube, Gertrud stirbt!«
»Aber eben lag sie doch noch friedlich …«, begann ich, aber Thérèse schüttelte mich wie wild weiter. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Komm doch endlich, du musst kommen!«
Ich hastete mit ihr zur Kammer im Oberstock, wo schon ein paar Gaffer im Türrahmen standen und den Weg versperrten. Ich schob sie beiseite, irgendjemand drückte mir einen Kerzenleuchter in die Hand, und ich hielt die Lichtquelle in den Raum. Gertrud lag gekrümmt in einer Ecke, sie hechelte und wimmerte und hielt sich den Unterleib. Ich sprach sie an. »Gertrud«, sagte ich möglichst ruhig, »was
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