Der Medicus von Saragossa
die Grundzüge der Sabbatfeier waren ihm entglitten. So wußte er zwar noch, daß der Teil der Feier, der im Stehen gebetet wurde – das Amida –, aus achtzehn Sprüchen bestand. Doch sosehr er sich, das Herz voller Kummer und Enttäuschung, auch bemühte, es fielen ihm nur siebzehn ein. Außerdem bereitete ihm einer der Sprüche, an die er sich erinnern konnte, schreckliches Kopfzerbrechen. Der zwölfte Spruch war ein Bittgebet für die Vernichtung der Ketzer.
Als er im Knabenalter die Gebete im Haus seines Vaters auswendig gelernt hatte, hatte er sich keine allzu großen Gedanken um deren Bedeutung gemacht. Aber jetzt, da er im dunklen Schatten einer Inquisition lebte, deren Ziel die Vernichtung aller Ketzer war, stach dieses Gebet wie ein Pfeil in sein Herz.
Bedeutete das, daß die Juden, falls sie anstelle der Christen an der Macht wären, ebenfalls Gott benutzen würden, um Ungläubige zu vernichten? War es ein unumstößliches Gesetz, daß absolute religiöse Macht auch absolute Grausamkeit mit sich brachte?
Ha-Rakhaman, Unser Vater im Himmel, du einziger Gott, warum läßt du es zu, daß in deinem Namen so bedenkenlos gemetzelt wird?
Jona war überzeugt, daß die Alten, die diese achtzehn Sprüche zusammengestellt hatten, gottesfürchtige Männer und Gelehrte gewesen waren. Aber der Verfasser des zwölften Spruches hätte ihn wohl nicht so geschrieben, wenn er der letzte Jude in Spanien gewesen wäre.
Eines Tages entdeckte Jona auf der plaza mayor, in einem Haufen wertlosen Krams, hinter dem ein einäugiger Bettler saß, einen Gegenstand, bei dem ihm der Atem stockte. Es war ein kleiner Kelch. Ein Kiddusch-Kelch zur Segnung des Weins, wie ihn sein Vater für so viele jüdische Kunden angefertigt hatte. Er zwang sich, zuerst andere Dinge zur Hand zu nehmen, eine Gebißstange, die so verbogen war, daß sie in kein Pferdemaul mehr paßte, eine schmutzige Leinwandtasche, ein Wespennest, das noch an einem Ast hing.
Als er den Kelch umdrehte, sah er enttäuscht, daß er nicht von seinem Vater stammte, denn es fehlte ihm die HT-Punze, mit der Helkias Toledano den Fuß jedes seiner Kelche versehen hatte. Wahrscheinlich war er von einem Silberschmied angefertigt worden, der irgendwo in der Gegend von Saragossa gelebt hatte. Der Kelch war bestimmt zur Zeit der Vertreibung weggeworfen oder verkauft worden und offensichtlich seitdem nicht mehr poliert worden, denn er war schwarz vom Schmutz und dem Beschlag all dieser Jahre und außerdem stark zerkratzt.
Trotzdem war es ein Kiddusch-Becher, und Jona wollte ihn unbedingt haben. Aber eine schreckliche Angst ließ ihn zögern. Es war ein Gegenstand, dem nur Juden Beachtung schenken würden. Vielleicht war er als Köder unter den Kram des Bettlers geschmuggelt worden, und mißbilligende Augen würden sich die Person des Käufers merken, wenn er von einem Juden entdeckt und erworben wurde.
Er nickte dem Bettler zu und schlenderte davon. Langsam umkreiste er den ganzen Platz und suchte jeden Eingang, jedes Dach und jedes Fenster nach etwaigen Beobachtern ab.
Doch er sah niemanden, der ihn zu beachten schien, und so kehrte er zu dem Bettler zurück und stöberte noch einmal in dessen Kram. Er suchte sich ein halbes Dutzend Sachen aus, die er weder wollte noch brauchte, und griff wie nebenbei auch zu dem Kelch, und natürlich vergaß er auch das übliche Feilschen nicht.
Zu Hause angekommen, polierte er behutsam den Kelch. Seine Oberfläche wies einige tiefe Kratzer auf, die auch mit ausdauerndstem Polieren nicht zu beseitigen waren, aber trotzdem wurde der Kelch sehr schnell zu einem der Dinge, die er am meisten schätzte.
Der Herbst des Jahres 1507 war feucht und kalt. Auf allen öffentlichen Plätzen war Husten zu hören, und Jona hatte viel zu tun, auch wenn er zeitweise an dem gleichen quälenden Husten litt, der seine Patienten plagte.
Im Oktober wurde er zu Doña Sancha Berga gerufen, einer betagten Alten Christin, die in einem großen und wohl ausgestatteten Haus in einem vornehmen Viertel Saragossas wohnte. Ihr erwachsener Sohn, Don Berenguer Bartolome, und ihre Tochter Monica waren anwesend, als Jona ihre Mutter untersuchte. Sie hatte noch einen weiteren Sohn, Geraldo, einen Kaufmann in Saragossa.
Doña Sancha war die Witwe des berühmten Kartographen Martin Bartolome. Sie war eine schlanke und intelligente Frau von vierundsiebzig Jahren. Sonderlich krank schien sie nicht zu sein, aber wegen ihres Alters verschrieb er ihr viermal täglich Wein in heißem
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