Der Medicus von Saragossa
Espina ging allein nach draußen, wo sein Pferd angebunden stand.
Im Schritt ritt er davon, langsam genug, um seine Fassung wiederzuerlangen. Denn im Moment hatte er nur einen Gedanken: wie er bei seiner Ankunft zu Hause Estrella beruhigen konnte, ohne in Tränen auszubrechen.
Teil II
Der zweite Sohn
Toledo, 30. März 1492
1. Jona Ben Helkias
I ch werde mit Eleasar zum Fluß hinuntergehen, vielleicht fangen wir ja unser Abendessen. Was meinst du, Abba?«
»Bist du mit dem Polieren fertig?«
»Das meiste ist fertig.«
»Die Arbeit ist erst zu Ende, wenn alles fertig ist. Du mußt alle Stücke polieren«, sagte Helkias mit der freudlosen Stimme, die Jona immer verletzte. Manchmal wollte er seinem Vater in die leeren Augen starren und ihm sagen: Meir ist tot, aber Eleasar und ich sind noch da. Wir leben.
Jona haßte das Silberpolieren. Ein halbes Dutzend großer Stücke wartete noch auf ihn, und er tauchte seinen Lumpen in die stinkende Paste, eine dicke Mischung aus pulverisiertem Vogelkot und Urin, und rieb und rieb.
Den Geschmack des Leids hatte er früh kennengelernt, beim Tod seiner Mutter, und es war sehr schwer für ihn gewesen, als Meir ermordet wurde, denn da war er schon älter gewesen, fast dreizehn Jahre, und begriff die Endgültigkeit des Verlustes besser. Nur wenige Monate nach Meirs Tod hatte man Jona zur Tora gerufen, damit er das Gesetz vorlese und ein vollgültiges Mitglied des Minjan werde. Das Unglück hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Sein Vater, der ihm immer so groß und stark erschienen war, verzehrte sich derweil noch immer, und Jona wußte nicht, wie er die Lücke füllen sollte, die Helkias' Kummer gerissen hatte.
Sie wußten nicht, wer die Mörder seines Bruders waren. Einige Wochen nach Meirs Tod hatte Helkias Toledano erfahren, daß der Arzt Espina durch die Stadt streife und Erkundigungen über den Vorfall einziehe, der seinen Sohn das Leben gekostet hatte. Helkias war mit Jona aufgebrochen, um Espina zu besuchen und mit ihm zu reden, doch als sie sein Haus erreichten, sahen sie, daß es verlassen war und Juan Pablo, Espinas ehemaliger Diener, von der verbliebenen Einrichtung wegschleppte, was er gebrauchen konnte, einen Tisch und einige Stühle. Juan Pablo sagte ihnen, der Arzt und seine Familie seien weggezogen.
»Wohin sind sie gegangen?«
Der Mann hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ich weiß es nicht.« Helkias war zur Abtei zur Himmelfahrt Mariä gegangen, um mit Padre Sebastian Alvarez zu sprechen, doch bei seiner Ankunft dachte er im ersten Augenblick verwirrt, er wäre unterwegs irgendwo falsch abgebogen. Innerhalb der Mauern standen eine Reihe Wagen und Karren. Daneben stampften drei Frauen in einem großen Faß rote Trauben. Durch die geöffnete Tür der ehemaligen Kapelle sah Helkias Körbe mit Oliven und noch mehr Trauben.
Auf die Frage, wohin die Mönche denn gezogen seien, antwortete ihm eine der Frauen, die Abtei zur Himmelfahrt Mariä sei aufgelöst worden und der Hieronymiten-Orden habe das Grundstück an ihren Herrn verpachtet.
»Und was ist mit Padre Sebastian? Wo ist der Prior?« fragte er. Die Frau hatte ihn nur angelächelt, den Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt, ohne im Stampfen innezuhalten.
Jona hatte sich die größte Mühe gegeben, die Pflichten des ältesten Sohnes zu übernehmen, aber ihm war klar, daß er seinen Bruder nie würde ersetzen können. Nicht als Lehrling des Silberschmiedehandwerks, nicht als Sohn, nicht als Bruder, in keiner Weise. Der erloschene Blick in den Augen seines Vaters machte seinen Kummer noch schlimmer. Obwohl seit Meirs Tod drei Pessach-Feste vergangen waren, waren Helkias' Haus und Werkstatt noch immer Orte der Trauer.
Einige der Stücke vor ihm waren besonders dunkel angelaufen, aber er sah keinen Grund zur Eile, denn sein Vater schien sich plötzlich an ihre Unterhaltung vor einer halben Stunde zu erinnern. »Du wirst nicht zum Fluß gehen. Suche Eleasar, und dann bleibt ihr mir beide in der Nähe des Hauses. In einer Zeit wie dieser dürfen sich jüdische Jungen keiner Gefahr aussetzen.«
Nach Meirs Tod hatte Jona die Verantwortung für Eleasar übernehmen müssen, der ein zarter und apfelwangiger siebenjähriger Knabe war. Er erzählte dem Jüngeren Geschichten über ihren älteren Bruder, damit er ihn nie vergessen würde, und manchmal zupfte er Melodien auf der kleinen maurischen Gitarre, die Meir gehört hatte, und die beiden sangen dazu. Er hatte Eleasar versprochen, ihm das Gitarrespielen
Weitere Kostenlose Bücher