Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
zu hören: »Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.«
Was ich mittlerweile weit mehr fürchte, als daß die Berge ins Meer sinken ist, daß wir uns eine fürchterliche Erkältung holen, wenn wir noch lange barhäuptig im dicht fallenden Schnee reglos auf unseren Pferden hocken und den frommen Sprüchen unseres Hauptmanns lauschen. Endlich kommt das erlösende Kommando:
»Akt! Avdelning marsch!«
Wir stülpen unsere Hüte wieder auf die Köpfe. Kapten Larsson setzt sich an die Spitze, gefolgt von zwei der Södermanländer, dann Ysabel und ich, und hinter uns die restlichen vier Mann mit den Packpferden am langen Zügel. Im mühsamen Trab reiten wir hinein in das treibende Weiß des Schnees Richtung Osten.
Dienstag,
der 20. Januar
Daß meine Södermanländer noch etwas anderes können als Bibelverse rezitieren und Choräle singen, erweist sich in der Nähe von Neustrelitz an der Westgrenze des Herzogtums Mecklenburg. Wie jeden Abend haben wir, durchnäßt, erschöpft und halb erfroren, vor einem meist am Rand oder außerhalb größerer Ortschaften gelegenen Gasthaus haltgemacht.
Das übliche, höchst ausführliche Tischgebet des Kapten hatte bereits den Spott eines Dutzend Männer herausgefordert, die am anderen Ende des gemütlich geheizten Schankraums um ihre Bierkrüge hockten. Als der dampfende Eintopf schließlich auf unserem Tisch steht und die Männer eben nach den Löffeln greifen, grölt es von der anderen Seite herüber:
»He, Ihr da! Nicht fressen! Weiterbeten!«
»Welcher isset, der verachte den nicht, der da isset«, erwidert Sven Larsson ruhig. »Und welcher nicht isset, der richte den nicht, der da isset. Römer, Kapitel 14. Vers 3.«
Brüllendes Gelächter ist die Antwort.
Rufe wie »Betbruder«, »Schlappschwanz«, »Bibelbübchen«, »Hosenscheißer« und »Polackenknecht« schallen herüber.
Zunächst versuchen meine Södermanländer, die Zurufe zu überhören, schließlich aber steht Kapten Larsson langsam auf, erklärt mit leicht drohendem Unterton:
»Das Gedächtnis der Gerechten bleibt im Segen; aber der Gottlosen Namen wird verwesen. Wer weise von Herzen ist, der nimmt die Gebote an; der aber ein Narrenmaul hat, wird geschlagen. Sprüche Salomonis, Kapitel 10, Vers 7 und 8.«
»Narrenmaul! Narrenmaul!« tönt es zurück. Ein Bierkrug segelt heran und kracht kaum eine Handbreit neben Ysabels Kopf gegen die Wand.
»Joel, Kapitel 2, Vers 1«, dröhnt Sven Larsson wütend: »Stoßt ins Horn auf Zion und erhebt ein Kriegsgeschrei auf meinem heiligen Berge!«
Im nächsten Augenblick sind die Södermanländer auch schon auf den Beinen.
»Falsche Mäuler sind dem Herrn ein Greuel; die aber treulich handeln, gefallen ihm wohl. Es wird den Gerechten kein Leid geschehen; aber die Gottlosen werden voll Unglück sein. Sprüche Salomonis, Kapitel 12, Vers 21 und 22«, zitiert der Kapten, als er sich mit seinen Männern zehn Minuten später wieder an unseren Tisch setzt und nach dem Löffel greift.
Die Gottlosen sind in der Tat voll Unglück. Vier oder fünf der schwerer blessierten kriechen stöhnend und jammernd auf der anderen Seite des Schankraumes zwischen zerschmettertem Geschirr und zertrümmertem Mobiliar hervor, der Rest hatte bereits mit blutenden Nasen, ausgeschlagenen Zähnen und geschwollenen Augen fluchtartig das Weite gesucht.
Seit diesem Zwischenfall erdulde ich die Bibelverse des Kapten mit Gelassenheit, fühle mich in seiner Gesellschaft so sicher wie lange nicht mehr, und sinniere darüber nach, was geschehen wäre, wenn die Södermanländer statt der blanken Fäuste mit der Waffe zugeschlagen hätten. Als ich eine halbe Stunde später zu Ysabel unter die warmen Decken krieche, höre ich mit Genugtuung aus dem Nebenraum das allabendlich unvermeidliche Choralsingen herüberschallen.
Sonntag,
der 25. Januar
»Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
Der spricht zu dem Herrn: Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.
Denn Er errettet mich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz.
Es wird dir kein Übles begegnen, und keine Plage wird sich dir nahen.
Denn Er hat Seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
Daß sie dich auf den Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.«
Die Worte des 91. Psalmes erscheinen mir wirklich zunehmend wie ein Leitmotiv dieser Reise.
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