Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
gepfiffen wurde.
Nur wenige konnten die wahren Begebenheiten wirklich kennen. Fugger, Querini und Löffler kannten sie. Bei der Betrachtung der Reise Dreylings durch Europa bis zum Kreisschluß dort unten auf der Totenplatte aber wird deutlich: Unsere Macht reicht aus, die Begebenheiten nach Wünschbarkeit oder Nützlichkeit zu beeinflussen, bis hin zum gewollten Irrtum. Die Anklage zeichnete ein Bild, das die Wahrheit völlig überdeckte. Und Schiller-Herdern trug jedes Wort mit einer Überzeugung vor, als wäre es abgesiegelt.
Dreyling begann zu antworten:
»In eure Fragen gehört zuerst die Ordnung; daher die letzte an den Anfang:
Ihr fragt, warum ich das Haus der Fugger gestürmt und verwüstet habe?
Ich sage Euch: So oft der Jesuit Scherer, Gott unsern Herrn mißbraucht hat und so lange Ihr die Wirkung seines lästerlichen Mundes auf die Knappen im Angesicht der Katastrophe nicht einbezieht, so viele Male müßt Ihr nach verkehrten Maßstäben urteilen.
Viele unter uns erinnern sich genau an die Predigt des Jesuiten, der seine geistigen Krallen in unsere Gehirne schlagen wollte, indem er uns das Unglück als gottgefällig verkaufen wollte, als sei unser Elend eine Auszeichnung Gottes. Wir haben diese Krallen abgewehrt und aus unseren Köpfen herausgezogen.
Nun, Ihr wollt offenbar auch heute noch nicht anerkennen, daß jener Hofprediger damals, statt Trost zu spenden, absichtlich Furcht und Unsicherheit geschürt hat, und das nur, um den Verzweifelten, Erschütterten, in Not geratenen Menschen seine krank machenden Worte von Sünde, Verderbnis und Verdammnis noch stärker einzubleuen. Und das wiederum allein zum Nutzen der Fugger.
Aber seht doch selbst hin:
Die Ursachen zu bekämpfen ist Euch allen doch nie gelungen! Eitelkeit, Gewalt, Hoffart, vor allem die Macht sitzt unbeschadet nicht weit von hier.
Und wem verdanken sie das?
Wem verdankt Ihr, daß Schwaz ’74 nicht zur Asche wurde?
Wem verdankt Ihr, daß Schwaz überhaupt noch existiert?
Der Sünde etwa, der Verdammnis oder der Verderbnis?
Ankläger, Ihr kennt die Namen genau, die damals ein noch größeres Unglück von dieser Bergwerksstadt abgewendet haben. Aus Eurem Munde klingen die Namen viel schöner. Nennt sie uns, Ankläger!«
Peng … peng …! meldete sich die Keilhaue.
»Ihr seid gefragt! Richtet Euch nach meinen Anweisungen! Ich werde diese Art von Gegenfragen nicht weiter dulden!«, unterbrach der Bergrichter gereizt.
»Entschuldigt meine Unbedachtheit …
Nein! Der Ankläger braucht sie nicht nennen, aber wissen wird er sie!«
»Angeklagter!« hakte der Bergrichter nach. »Beantwortet meine Frage: Wart Ihr in jener Nacht im Fuggerpalais?«
»Nein! Mein Zorn reichte damals wie heute nicht aus, ein Haus zu stürmen und zu verwüsten. Mit Billigkeit füge ich hinzu, daß Hunderte von Knappen gesehen haben müssen, daß ich abseits stand. Der Haß der Knappen, aus der Ohnmacht geboren, mußte gebremst werden. Gott sei gedankt; es ist uns gelungen! Der Weg nach Hall zu den Verhandlungen wäre sonst versperrt gewesen. Oder glaubt Ihr, die Obrigkeit verhandelt ernsthaft mit Aufrührern, die die Krone des Hasses, des Bösen, der Unseligen und Verfluchten oder gar der Kistenfeger und Säckelleerer auf dem Kopf tragen? Glaubt Ihr das?
Pater Conrad, unser Franziskanerguardian, kann bezeugen, daß ich damals kein Blut vergiftet und damit auch heute keine Scherben wegzukehren habe. Ich verlange, daß Pater Conrad zu diesem Punkt gehört wird!«
»Pater Conrad ist seit Jahren tot«, gab Reisländer zur Antwort. »Er mag vor Gott für Euch zeugen, vor diesem Gericht kann er es nicht mehr!«
»Ja, darf denn das widerwärtige, erbärmliche Geschrei dort unten so weit und breit unwidersprochen erschallen?« fuhr mit überschlagender Stimme Schiller-Herdern dazwischen. Sein Gesicht schien in diesem Moment wie mit Kalk gepudert.
»Kühlt Eure Glut und bremst Eure Ungeduld!«, stoppt Richter Reisländer den Ankläger, und an Dreyling gerichtet: »Fahrt fort! Warum wart Ihr der Anführer des Knappenaufstandes?«
»Anführer?! Als einer, der in feindseligen Gefühlen badete? Nein!
Ich habe mich nicht danach gedrängt, die Verhandlungen mit den hohen Herren vom Innsbrucker Hof zu führen. Nur wer jenes unauslöschliche Entsetzen und jenes tiefe, eisige Mißtrauen gegenüber den Gewerken erlebt hat, das damals nach der Katastrophe herrschte, weiß, wie nahe in jener Nacht das Wüten, das Brennen und Morden gewesen ist.
Anführer bin ich
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