Der Meister und Margarita
über sich einen laut schmetternden Nachtigallenchor. Sein Ziel war nicht mehr weit. Er wußte, daß er gleich rechts im Dunkel das leise Murmeln des Wassers in der Grotte hören würde. So kam es auch. Es wurde immer kühler. Da verhielt er den Schritt und rief halblaut: "Nisa!"
Aber statt Nisa löste sich von einem dicken Ölbaumstamm eine vierschrötige Männergestalt und sprang auf ihn zu, etwas Blitzendes in der Hand, das sofort wieder erlosch.
Judas stieß einen leisen Schrei aus und wollte zurücklaufen, doch ein zweiter Mann versperrte ihm den Weg. Der erste, der vor ihm war, fragte:
"Wieviel Geld hast du vorhin bekommen? Sag's, wenn dir dein Leben lieb ist!"
Hoffnung blitzte in Judas auf, und er schrie verzweifelt: "Dreißig Tetradrachmen! Dreißig Tetradrachmen! Ich habe sie bei mir! Da ist das Geld! Nehmt es, doch laßt mir das Leben!" Der Mann entriß ihm augenblicklich den Beutel. Im selben Moment zuckte hinter ihm ein Messer auf und traf den Verliebten unterm Schulterblatt. Es schleuderte ihn nach vorn, er warf die Hände mit verkrümmten Fingern in die Luft. Der Mann vor ihm fing ihn mit seinem Messer auf und stieß es ihm bis an das Heft ins Herz.
"Ni... sa", sagte Judas nicht mit seiner hohen und klaren Jünglingsstimme, sondern tief und vorwurfsvoll. Weiter gab er keinen Laut vort sich. Sein Körper schlug so heftig zu Boden, daß es einen dumpfen Aufprall gab.
Da erschien auf der Straße eine dritte Gestalt. Dieser dritte trug einen Umhang mit Kapuze.
"Beeilt euch", gebot er. Rasch wickelten die Mörder den Geldbeutel samt einem Zettel, den der dritte ihnen gegeben, in Leder und verschnürten ihn über Kreuz. Der zweite schob das Päckchen ins Hemd, dann liefen die beiden Mörder vom Weg nach verschiedenen Seiten davon, und die Finsternis zwischen den Ölbäumen verschluckte sie. Der dritte jedoch kauerte sich neben dem Ermordeten nieder und schaute ihm ins Gesicht. Es erschien kreideweiß und von durchgeistigter Schönheit. Bald darauf war nichts Lebendiges mehr auf der Straße. Der entseelte Körper lag mit ausgebreiteten Armen. Der linke Fuß befand sich in einem Fleck Mondlicht, so daß jedes Riemchen der Sandale deutlich zu sehen war.
Der ganze Gethsemane-Garten hallte wider vom Nachtigallensang. Wohin sich die beiden Mörder des Judas wendeten, weiß niemand, aber der Weg des dritten mit der Kapuze ist bekannt. Nachdem er den Pfad verlassen, drang er ins Dickicht der Ölbäume ein und wandte sich gen Süden. Weit vom Haupttor, an der südlichen Ecke des Gartens, überkletterte er die Einfriedigung an einer Stelle, wo die oberen Steine des Mauerwerks herausgebrochen waren. Bald danach war er am Ufer des Kidron. Er ging ins Wasser und watete eine Zeitlang den Fluß entlang, bis er von weitem die Silhouetten zweier Pferde und eines Mannes sah. Die Pferde standen ebenfalls im Wasser, dessen leichte Strömung ihre Hufe umspülte. Der Pferdewärter bestieg das eine Pferd, der Mann mit der Kapuze schwang sich auf das andere, dann ritten beide langsam den Fluß entlang, und die Steine knirschten unter den Pferdehufen. Sodann verließen die Reiter das Wasser, ritten das Jerschalaimer Ufer hinauf und dann im Schritt längs der Stadtmauer. Hier trennte sich der Pferdewärter von dem andern, sprengte voraus und entschwand seinen Blicken, der Mann mit der Kapuze aber hielt sein Pferd an, saß auf der menschenleeren Straße ab, nahm den Umhang von den Schultern, kehrte die Innenseite nach außen, holte einen flachen Helm ohne Befiederung darunter hervor und setzte ihn auf. Als er sich wieder aufs Pferd schwang, trug er eine Militärchlamys und ein kurzes Schwert an der Seite. Er ruckte an den Zügeln, das feurige Kavalleriepferd setzte sich in Trab und ließ den Reiter auf und nieder wippen. Es war nicht mehr weit, der Reiter näherte sich dem Südtor von Jerschalaim. Unterm Torbogen tanzte und hüpfte Fackellicht. Wachsoldaten von der zweiten Zenturie der Blitzlegion saßen auf den Steinbänken und würfelten. Als sie den hereinreitenden Offizier erblickten, sprangen sie auf, der Mann winkte ihnen zu und ritt in die Stadt.
Die Stadt war von festlichen Lichtern überflutet. In allen Fenstern spielten die Flammen der Leuchter, und von allerwärts tönten, zu einem wirren Chor verfließend, die Festgebete. Wenn der Reiter in die Fenster schaute, die zur Straße führten, sah er die Menschen am Tisch sitzen, auf dem das Fleisch des Lamms aufgetragen war und Weinschalen zwischen Schüsseln mit
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