Der Meister und Margarita
den Mond an, und die blaue Straße, die so glatt war wie mit Ol begossen, brach vor dem Prokurator ab. Er schlug die Augen auf, und das erste, was ihm einfiel, war, daß die Hinrichtung stattgefunden hatte. Das erste, was er tat, war, daß er mit gewohnter Bewegung nach Bangas Halsband griff, dann suchte er mit kranken Augen den Mond und sah, daß der etwas weiter gerückt war und silbrig glänzte. Sein Licht war stärker als das unangenehme Flackerlicht, das auf dem Balkon dicht vor seinen Augen spielte. In der Hand des Zenturios Marcus Rattenschlächter loderte eine blakende Fackel. Der sie hielt, schielte mit Angst und Wut auf das gefährliche Tier, das zum Sprung ansetzte.
"Ruhig, Banga", sagte der Prokurator mit kranker Stimme und räusperte sich. Mit der Hand sich gegen die Flamme beschirmend, fuhr er fort: "Auch nachts und bei Mondschein finde ich keine Ruhe! O ihr Götter ... Sie haben auch einen üblen Beruf, Marcus. Sie verkrüppeln die Soldaten . .." Höchlich verblüfft blickte Marcus den Prokurator an, und dieser besann sich. Um den Eindruck seiner überflüssigen schlaftrunkenen Worte zu verwischen, sagte der Prokurator: "Nehmen Sie es nicht übel, Zenturio. Meine Situation, ich wiederhole es, ist noch schlimmer. Was wollen Sie?' r "Der Kommandant des Geheimdienstes möchte zu Ihnen", meldete Marcus ruhig.
"Rufen Sie ihn her, rufen Sie ihn her", befahl der Prokurator, hustete sich die Kehle saÜber und scharrte mit bloßen Füßen nach den Sandalen. Die Flamme spielte auf den Säulen, die Caligas des Zenturios knallten übers Mosaik. Der Zenturio ging hinaus in den Garten.
"Auch bei Mondlicht finde ich keine Ruhe", sagte der Prokurator zähneknirschend zu sich selbst.
Auf dem Balkon erschien statt des Zenturios der Mann mit der Kapuze.
"Ruhig, Banga", sagte der Prokurator leise und preßte den Nak-ken des Hundes.
Bevor Afranius zu sprechen begann, sah er sich gewohnheitsmäßig um, trat in den Schatten, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß außer Banga sonst niemand auf dem Balkon war, sagte er leise:
"Ich bitte, mich vor Gericht zu stellen, Prokurator. Sie hatten recht. Ich habe es nicht verstanden, Judas aus Kirjath zu schützen. Man hat ihn erstochen. Ich bitte, mich vor Gericht zu stellen und mich zu entlassen."
Es dünkte Afranius, daß ihn vier Augen anblickten: zwei Hundeaugen und zwei Wolfsaugen.
Unter der Chlamys holte er einen blutverklebten Geldbeutel mit zwei Siegeln hervor.
"Diesen Geldbeutel haben die Mörder dem Hohenpriester ins Haus geworfen. Das Blut daran ist das Blut des Judas aus Kir-jath."
"Wieviel ist denn drin?" fragte Pilatus und beugte sich über den Beutel.
"Dreißig Tetradrachmen."
"Wenig", sagte der Prokurator schmunzelnd.
Afranius schwieg.
"Wo ist der Ermordete?"
"Das weiß ich nicht", antwortete mit ruhiger Würde der Mann, der sich niemals von seiner Kapuze trennte, "am Morgen werden wir mit der Untersuchung beginnen." Der Prokurator zuckte zusammen und ließ den Riemen der Sandale los, der sich nicht in die Schnalle fügte. "Aber daß er tot ist, wissen Sie genau?" Darauf erhielt der Prokurator die trockene Antwort: "Ich tue diese Arbeit in Judäa schon fünfzehn Jahre, Prokurator. Schon unter Valerius Gratus begann ich meinen Dienst. Um sagen zu können, daß jemand tot ist, muß ich nicht unbedingt die Leiche gesehen haben. Ich melde Ihnen also, daß der Mann, den man Judas aus Kirjath nennt, vor wenigen Stunden erstochen wurde."
"Verzeihen Sie mir, Afranius", antwortete Pilatus, "ich bin noch nicht richtig wach, sonst hätte ich das nicht gesagt. Ich schlafe schlecht" — der Prokurator lächelte — "und sehe fortwährend einen Mondstrahl vor mir. Es ist zum Lachen, stellen Sie sich vor, mir ist, als ginge ich den Strahl entlang ... Also, ich möchte Ihre Mutmaßungen zu diesem Fall wissen. Wo werden Sie ihn suchen? Setzen Sie sich, Kommandant des Geheimdienstes." Afranius verneigte sich, rückte den Sessel näher ans Ruhebett und ließ sich darauf nieder, wobei sein Schwert klirrte. "Ich denke, ich werde ihn in der Nähe der Ölpresse im Garten Gethsemane suchen." "Soso. Warum gerade dort?"
"Hegemon, ich mutmaße, Judas wurde nicht in Jerschalaim selbst und auch nicht fern von der Stadt ermordet, sondern in ihrer Nähe."
"Ich halte Sie für einen der hervorragendsten Kenner Ihres Fachs. Wie es in Rom steht, weiß ich nicht, aber in den Kolonien finden Sie nicht Ihresgleichen. Wollen Sie mir erklären, warum Sie das mutmaßen?"
"Ich glaube
Weitere Kostenlose Bücher