Der Meister und Margarita
wissen, das wissen wir nicht.
Wir wissen jedoch, daß genau eine Minute nach dem Vorfall am Smolensker Markt Behemoth und Korowjew auf dem Gehsteig des Boulevards vor dem Hause von Gribojedows Tante standen. Korowjew war vor dem Gitter stehengeblieben und sagte: "Sieh an! Das ist doch das Schriftstellerhaus! Weißt du, Behemoth, von diesem Haus habe ich schon viel Gutes und Lobendes gehört. Schau es dir an, mein Freund. Welch angenehmer Gedanke, daß unter diesem Dach verborgen eine ganze Masse von Talenten heranreift."
"Wie Ananas im Gewächshaus", sagte Behemoth und stieg, um das cremefarbene Haus mit den Säulen besser betrachten zu können, auf den Betonsockel des Eisengitters. "Völlig richtig", pflichtete Korowjew seinem unzertrennlichen Begleiter bei, "und ein süßes Erschauern rieselt zum Herzen, wenn man daran denkt, daß in diesem Haus der künftige Autor eines ,Don Quijote' heranreift oder eines ,Faust' oder, hol mich der Teufel, der ,Toten Seelen'! Nicht?" "Man wagt es gar nicht zu denken", bestätigte Behemoth. ,Ja", fuhr Korowjew fort. "Erstaunliches ist noch zu erwarten aus den Treibkästen dieses Hauses, das unter seinem Dach ein paar tausend selbstlose Streiter vereint, die entschlossen sind, ihr Leben dem Dienst der Melpomene, der Polyhymnia und der Thalia zu weihen. Stell dir vor, was für ein Lärm sich erheben wird, wenn einer von ihnen dem Leserpublikum für den Anfang einen ,Revisor' oder zur Not einen ,Eugen Onegin' vorlegt!" "Und das ist leicht möglich", bestätigte Behemoth wiederum. ,Ja", führ Korowjew fort und hob besorgt den Finger. "Aber! Aber, sage ich und wiederhole dieses Aber! Wenn nur nicht irgendein Mikroorganismus die zarten Treibhauspflänzchen befällt, wenn nur nichts an ihren Wurzeln nagt, wenn sie nur nicht verfaulen! Und das kommt vor bei Ananaspflanzen! Oi — oi, und wie das vorkommt!"
"Apropos", Behemoth hatte seinen runden Kopf durchs Gitter gezwängt, "was machen die da auf der Veranda?"
"Sie essen Mittag", erklärte Korowjew, "und ich möchte dem hinzufügen, mein Lieber, daß sie hier ein vorzügliches und nicht sehr teures Restaurant haben. Im übrigen spüre ich wie jeder Tourist vor der Weiterreise das Verlangen, etwas zu essen und ein großes Glas eisgekühltes Bier zu trinken."
"Ich auch", antwortete Behemoth, und die beiden Bpsebolde marschierten über den Asphaltweg unter den Linden stracks zur Veranda des nichtsahnenden Restaurants.
Eine blasse und gelangweilte Frauensperson in weißen Söckchen und weißer Baskenmütze .mit Zipfel saß auf einem Wiener Stuhl vor der Veranda an der Ecke, wo im Grünspalier die Ein-gangsöffnung frei gelassen war. Vor ihr lag auf einem Küchentisch ein dickes Kontorbuch, in das sie zu unergründlichen Zwecken die Restaurantgäste eintrug. Von dieser Frauensperson wurden Korowjew und Behemoth angehalten. "Ihre Ausweise?" Verwundert blickte sie auf Korowjews Zwicker, auf Bc-hemoths Primuskocher und seinen zerfetzten Ellbogen. "Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, was für Ausweise?" fragte Korowjew erstaunt.
"Sind Sie Schriftsteller?" fragte die Frauensperson zurück. "Zweifellos", antwortete Korowjew würdevoll. "Ihre Ausweise?" wiederholte die Frauensperson. "Meine reizende .. .", begann Korowjew freundlich. "Ich bin nicht reizend", unterbrach ihn die Frauensperson. "Oh, wie schade", sagte Korowjew enttäuscht und fuhr fort: ,Je nun, wenn Sie nicht reizend zu sein wünschen, was sehr angenehm wäre, so können Sie es auch lassen. Also, um überzeugt zu sein, daß Dostojewski Schriftsteller ist, müssen Sie ihn da unbedingt nach seinem Ausweis fragen? Nehmen Sie beliebige fünf Seiten aus einem seiner Romane, und Sie werden auch ohne Ausweis gewiß sein, es mit einem Schriftsteller zu tun zu haben. Ich nehme sogar an, er hatte überhaupt keinen Ausweis! Was meinst du?" wandte sich Korowjew an Behemoth. "Ich wette, er hatte keinen", antwortete dieser, stellte den Primuskocher auf den Tisch neben das Buch und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der rußigen Stirn. "Sie sind aber nicht Dostojewski", sagte die Frauensperson, von Korowjew aus dem Konzept gebracht. "Na, wer weiß, wer weiß", antwortete dieser. "Dostojewski ist tot", sagte die Frauensperson, aber nicht sehr sicher.
"Ich protestiere!" rief Behemoth hitzig. "Dostojewski ist unsterblich!"
"Ihre Ausweise, Bürger", sagte die Frauensperson.
"Ich bitte Sie, jetzt wird's lächerlich!" sagte Korowjew unbeirrt. "Einen Schriftsteller erkennt man nicht am
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