Der Meister und Margarita
genau hin. Wie wär's, wollen Sie nicht für den guten Rat einen Viertelliter spendieren, damit ein ehemaliger Kantor sich die Stimme ölen kann?" Der Kerl riß dandyhaft die Jockeimütze vom Kopf.
Berlioz hörte nicht auf den Schnorrer und Talmikavalier, der da den Kantor mimte, er lief zum Drehkreuz und faßte es mit der Hand. Nachdem er es weitergedreht hatte, wollte er eben die Schienen betreten, als ihm rotes und weißes Licht ins Gesicht spritzte: Im Glaskästchen war die Schrift "Achtung, Straßenbahn!" aufgeleuchtet.
Da brauste sie auch schon heran, die Straßenbahn, die auf der neuen Linie von der Jermolajewski-Gasse in die Bronnaja einbog. Gleich hinter der Kurve, wo es geradeaus weiterging, flammte in ihr plötzlich das elektrische Licht auf, und aufheulend legte sie Tempo zu.
Der vorsichtige Berlioz wollte, obwohl er sicher stand, hinters Drehkreuz zurückkehren, legte die Hand auf einen der Holme und trat einen Schritt rückwärts. In diesem Moment glitt seine Hand ab und ließ los, sein Fuß rutschte unaufhaltsam über das eisglatte Pflaster, das sich schräg zu den Schienen hinabsenkte, das andere Bein flog in die Höhe, und Berlioz stürzte auf den Gleiskörper.
Er wollte sich irgendwo festhalten, landete auf dem Rücken und prallte mit dem Hinterkopf nicht sehr heftig gegen das Pflaster. Noch einmal sah er hoch droben, ob rechts oder links, konnte er nicht mehr erkennen, den güldenen Mond. Es gelang ihm, sich auf die Seite zu drehen; mit einer wütenden Bewegung zog er die Beine an den Bauch und erblickte nun die mit unaufhaltsamer Kraft auf ihn zurasende Straßenbahn, das entsetzensbleiche Gesicht der Wagenführerin und ihre rote Armbinde. Berlioz schrie nicht auf, doch ringsum gellte die ganze Straße in hysterischem Frauengekreisch. Die Wagenführerin zog die Schnellbremse, der Wagen kippte mit der Nase nach vorn und wippte danach ein wenig in die Höhe, klirrend und scheppernd flogen die Scheiben aus den Fenstern. Da schrie es verzweifelt in Berlioz' Gehirn: Das Ende etwa? Noch einmal, zum letztenmal, blinkte der Mond auf, aber er zerfiel schon in Scherben, und dann wurde es ganz dunkel.
Die Straßenbahn überrollte Berlioz, unterm Gitter der Patriarchenallee hervor sprang ein dunkler runder Gegenstand die gepflasterte Böschung hinauf, rollte wieder herab und hüpfte über den Fahrdamm.
Es war der abgetrennte Kopf von Berlioz.
4 Die Verfolgung
Das hysterische Frauengekreisch war verstummt, die Milizpfeifen hatten aufgehört zu trillern, zwei Sanitätswagen fuhren davon: Der eine transportierte den enthaupteten Körper nebst abgetrennten Kopf ins Leichenschauhaus, der andere brachte die von Glassplittern verletzte hübsche Wagenführerin fort; Hausmeister mit weißen Schürzen räumten die Scherben weg und schütteten die Blutlache mit Sand zu, und Besdomny saß noch immer so da, wie er auf die Bank gesunken war — er hatte es nicht fertiggebracht, bis zum Drehkreuz zu laufen. Ein paarmal versuchte er aufzustehen, aber die Beine gehorchten ihm nicht, eine Art Lähmung hatte ihn befallen. Er war aufs Drehkreuz zugestürzt, als er den ersten Schrei gellen hörte und der Kopf hüpfend über den Fahrdamm kullerte. Das hatte ihn dermaßen verstört, daß er, auf die Bank gesunken, sich die Hand blutig biß. Den verrückten Deutschen hatte er natürlich vergessen. Er grübelte nur über das eine, wie es möglich war, daß er eben noch mit Berlioz gesprochen hatte, und eine Minute später — der Kopf...
Aufgeregte Menschen rannten an dem Lyriker vorbei durch die Allee und schrien etwas, aber Iwan Nikolajewitsch nahm ihre Worte nicht auf.
Nun trafen jedoch vor ihm zwei Frauen aufeinander, und die eine von ihnen, spitznasig und barhäuptig, schrie der anderen zu:
"Annuschka, unsere Annuschka! Aus der Sadowaja! Die hat ihn auf dem Gewissen! Sie hat im Laden Sonnenblumenöl geholt und die Flasche am Drehkreuz zerschlagen! Den ganzen Rock hat sie sich versaut, und geschimpft hat sie! Der arme Kerl muß ausgerutscht sein und auf die Schienen gefallen." Von alledem, was die Frau herausschrie, drang in Besdomnys Bewußtsein nur ein Wort:,Annuschka."
,Annuschka ... Annuschka?" murmelte er und sah sich unruhig um. "Moment mal, Moment..."
Zu dem Wort ,Annuschka" gesellte sich "Sonnenblumenöl", dann kam irgendwoher "Pontius Pilatus" dazu. Den Pilatus verdrängte der Lyriker und knüpfte, beginnend mit dem Wort "Annuschka", die Kette weiter. Die Glieder fügten sich rasch aneinander und führten
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