Der Meister
»Als ich den VICAP-Bericht der Polizei von Fayetteville zu Gesicht bekam, glaubte ich, wieder im Kosovo zu sein. Der Mörder hätte ebenso gut seine Unterschrift am Tatort zurücklassen können, so charakteristisch waren die Umstände. Die Lage, in der die männliche Leiche gefunden wurde. Die Art von Klinge, die für den tödlichen Schnitt benutzt wurde. Der Gegenstand aus Porzellan oder Glas auf dem Schoß des Opfers. Die Entführung der Frau. Ich bin sofort nach Fayetteville geflogen und habe zwei Wochen mit der örtlichen Polizeibehörde zusammengearbeitet, habe sie bei ihren Ermittlungen unterstützt. Es ist uns nicht gelungen, einen Tatverdächtigen ausfindig zu machen.«
»Warum konnten Sie mir das nicht schon früher sagen?«
»Weil wir berücksichtigen müssen, um wen es sich bei dem Täter handeln könnte.«
»Von mir aus kann er auch ein Vier-Sterne-General sein. Ich hatte ein Recht, über den Fall in Fayetteville informiert zu werden.«
»Wenn es entscheidend dazu beigetragen hätte, Ihnen die Ergreifung eines Verdächtigen für die Bostoner Mordfälle zu ermöglichen, dann hätte ich es Ihnen gesagt.«
»Sie sagten, in Fort Bragg seien einundvierzigtausend aktive Soldaten stationiert.«
»Ja.«
»Wie viele von diesen Männern waren im Kosovo eingesetzt? Ich nehme an, Sie haben diese Frage bereits selbst gestellt.«
Dean nickte. »Ich habe das Pentagon um eine Liste all jener Soldaten gebeten, deren vergangene Einsätze mit den Orten und Daten der Morde übereinstimmen. Der Dominator ist nicht auf dieser Liste. Nur einige wenige dieser Männer sind derzeit überhaupt in Neuengland ansässig, und es hat sich herausgestellt, dass keiner von ihnen unser Mann ist.«
»Und das soll ich Ihnen einfach so glauben?«
»Ja.«
Sie lachte. »Sie verlangen ja einen ziemlichen Vertrauensvorschuss von mir.«
»Das gilt auch umgekehrt, Jane. Ich setze alles auf Ihre Vertrauenswürdigkeit.«
»Was wollen Sie mir denn anvertrauen? Bis jetzt haben Sie mir noch nichts erzählt, was eine Geheimhaltung rechtfertigen würde.«
In der Gesprächspause, die folgte, ging Deans Blick zu Conway, und dieser reagierte mit einem kaum merklichen Nicken. Es war eine wortlose Übereinkunft, ihr das letzte, entscheidende Puzzleteil auszuhändigen.
»Haben Sie schon einmal von der Praxis des ›sheep-dipping‹ gehört, Detective?«, fragte Conway.
»Ich nehme an, dass Sie nicht von Desinfektionsbädern für Schafe sprechen.«
Er lächelte. »Nein, da haben Sie Recht. Das ist Militärjargon und bezeichnet die Praxis der CIA, für bestimmte Missionen Soldaten der Sondereinsatzkommandos der Armee auszuleihen. Das war zum Beispiel in Nicaragua und in Afghanistan der Fall; immer, wenn die CIA für ihre eigene Sondereinsatzgruppe – die SOG oder ›Special Operations Group‹ – Verstärkung benötigte. In Nicaragua wurden SEAL-Trupps der Navy zum Verminen der Häfen eingesetzt. In Afghanistan wurden die Green Berets via ›sheep-dipping‹ herangezogen, um die Mudschaheddin auszubilden. Solange diese Männer für die CIA arbeiten, sind sie de facto CIA-Agenten. Sie werden beim Pentagon nicht mehr geführt; das Militär besitzt also keinerlei Unterlagen, die ihre Aktivitäten dokumentieren könnten.«
Sie sah Dean an. »Die Liste, die das Pentagon Ihnen geliefert hat – mit den Namen der Soldaten aus Fort Bragg, die im Kosovo gedient hatten –, sie war also…«
»Die Liste war unvollständig«, sagte er.
»Wie unvollständig? Wie viele Namen fehlten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Haben Sie die CIA gefragt?«
»Da bin ich gegen eine Wand gerannt.«
»Sie wollen keine Namen nennen?«
»Das müssen sie auch nicht«, sagte Conway. »Wenn der Täter in Geheimoperationen im Ausland verwickelt war, werden sie das nie offen zugeben.«
»Auch nicht, wenn ihr Mann jetzt im eigenen Land mordet?«
»Dann erst recht nicht«, sagte Dean. »Der Imageschaden wäre zu groß. Was wäre, wenn er sich entschlösse, vor Gericht auszusagen? Oder der Presse vertrauliche Informationen zuzuspielen? Sie glauben doch nicht, dass die CIA ein Interesse daran hat, uns wissen zu lassen, dass einer ihrer eigenen Jungs in Häuser einbricht und gesetzestreue Bürger abschlachtet. Und sich an Frauenleichen vergeht. So etwas könnte man unmöglich aus den Schlagzeilen heraushalten.«
»Was hat Ihnen die CIA denn nun gesagt?«
»Dass man keinerlei Informationen besitze, die für den Mord von Fayetteville relevant seien.«
»Das klingt wie eine
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