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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf die Dienstmarke, die Knarre. Ich wollte, dass die Leute Notiz von mir nehmen. Was ich nicht wollte, war, in irgendeinem Büro zu versauern und von niemandem bemerkt zu werden. Mich in die große Unsichtbare zu verwandeln. Das ist wie lebendig begraben werden. Niemand hört dir zu, niemand sieht dich.« Sie stützte den Ellbogen an der Tür ab und legte das Kinn in die Hand. »Inzwischen habe ich erkannt, dass Anonymität auch von Vorteil sein kann.«
    Dann hätte der Chirurg wenigstens nie meinen Namen erfahren.
    »Das klingt ja, als ob Sie die Entscheidung für den Polizeiberuf bereuen.«
    Sie dachte an die langen Nächte, die sie durchgearbeitet hatte, wach gehalten durch großzügige Dosen von Kaffee und Adrenalin. An die immer wieder erschütternden Konfrontationen mit dem Schlimmsten, was Menschen einander antun können. Und sie dachte an den blinden Passagier, dessen Akte immer noch auf ihrem Schreibtisch lag und sie unentwegt an die Vergeblichkeit menschlichen Strebens erinnerte. Des seinen wie des ihren. Wir träumen unsere Träume, dachte sie, aber wir ahnen oft nicht, wohin sie uns führen können. Plötzlich finden wir uns im Keller eines Farmhauses wieder, wo der Geruch von Blut in der Luft hängt. Oder wir stürzen im freien Fall aus dem blauen Himmel, rudern vergeblich mit Armen und Beinen gegen die Schwerkraft an. Aber unsere Träume sind unsere Träume, und wohin sie uns treiben, dorthin gehen wir.
    Endlich erwiderte sie: »Nein, ich bereue nichts. Das ist mein Job, und der ist mir wichtig. Und mein Job ist auch das, worüber ich so richtig in Fahrt geraten kann. Ich muss gestehen, die Wut ist eine große Motivation bei meiner Arbeit. Wenn ich die Leiche eines Opfers sehe, kann ich mich nicht einfach so abwenden. Es macht mich immer wieder so verdammt wütend – und nur wenn ich zulasse, dass mir der Tod eines Opfers wirklich an die Nieren geht, setze ich mich auch mit aller Kraft für die Aufklärung ein. Wenn ich einmal nicht mehr wütend werde, dann ist es wohl Zeit aufzuhören.«
    »Nicht jeder hat so viel Feuer im Bauch wie Sie.« Er sah sie an. »Ich glaube, ich habe noch nie einen Menschen kennen gelernt, der mit solcher Leidenschaft an seine Arbeit herangeht wie Sie.«
    »Das ist nicht unbedingt erstrebenswert.«
    »Leidenschaft ist eine gute Sache.«
    »Auch, wenn es bedeutet, dass Sie immer kurz davor sind zu explodieren?«
    »Ist das so bei Ihnen?«
    »Manchmal kommt es mir so vor.« Sie starrte auf die regenüberflutete Windschutzscheibe. »Ich sollte mir eine Scheibe von Ihnen abschneiden.«
    Er gab keine Antwort, und sie fragte sich, ob sie ihn wohl mit ihrer letzten Bemerkung vor den Kopf gestoßen hatte. Mit dem unausgesprochenen Vorwurf, er sei kalt und leidenschaftslos. Aber so war er ihr schon immer vorgekommen: Er war der Mann im grauen Anzug. Wochenlang hatte er sie an der Nase herumgeführt, und jetzt wollte sie ihren Frust abreagieren, indem sie ihn provozierte. Sie wollte ihm einfach nur irgendeine Gefühlsregung entlocken, ganz gleich, wie unangenehm es werden mochte – und wenn auch nur, um zu beweisen, dass sie es konnte. Seine Unerschütterlichkeit war für sie eine einzige Herausforderung.
    Aber es waren Herausforderungen wie diese, die Frauen dazu brachten, sich lächerlich zu machen.
    Als er schließlich vor dem Watergate vorfuhr, hatte sie sich ihre knappen Abschiedsworte schon zurechtgelegt.
    »Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie. »Und dafür, dass Sie mir die Augen geöffnet haben.« Sie wandte sich ab und stieß die Tür auf. Ein Schwall feuchtwarmer Luft schlug ihr entgegen. »Wir sehen uns dann in Boston.«
    »Jane?«
    »Ja?«
    »Keine Versteckspielchen mehr, okay? Ich meine, was ich sage.«
    »Wenn Sie darauf bestehen.«
    »Sie glauben mir nicht, oder?«
    »Ist das denn so wichtig?«
    »Ja«, sagte er leise. »Das ist mir sehr wichtig.«
    Sie zögerte, und ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen, als sie sich zu ihm umdrehte. Sie hatten einander so lange etwas vorgemacht, dass sie erst noch lernen mussten, die Wahrheit in den Augen des anderen zu lesen. In diesem Moment war es unmöglich vorauszusagen, was als Nächstes gesagt, was als Nächstes passieren würde. Keiner wagte es, den nächsten Schritt zu tun. Den ersten Fehler zu machen.
    Ein Schatten fiel auf die geöffnete Beifahrertür. »Willkommen im Watergate, Ma’am! Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?«
    Rizzoli blickte erstaunt auf und sah in das lächelnde Gesicht des Portiers. Er hatte

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