Der Meister
einem Lebenden ein Haar ausreißt und es eine Weile liegen lässt? Würden diese Veränderungen dann ebenfalls auftreten?«
»Nein. Diese Erscheinungen hängen mit dem Verwesungsprozess zusammen und lassen sich nur beobachten, wenn das Haar in der Kopfhaut des Toten verbleibt. Es muss später ausgerissen worden sein – nach dem Tod.« Erin erwiderte Rizzolis erstaunten Blick. »Ihr Unbekannter ist mit einer Leiche in Berührung gekommen. Das Haar ist an seiner Kleidung hängen geblieben, und von dort ist es auf das Klebeband geraten, als er Dr. Yeager an den Knöcheln fesselte.«
»Es gibt also noch ein Opfer«, sagte Rizzoli leise.
»Das ist eine Möglichkeit. Ich möchte Sie noch auf eine zweite aufmerksam machen.« Erin ging zu einem anderen Arbeitstisch und kam mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem ein Stück Klebstreifen mit der Klebeseite nach oben lag.
»Dieses Stück wurde von Dr. Yeagers Handgelenken abgezogen. Ich möchte es Ihnen unter UV-Licht zeigen. Schalten Sie doch mal eben das Deckenlicht aus.«
Rizzoli drückte auf den Schalter an der Wand. In der plötzlichen Dunkelheit strahlte Erins kleine UV-Lampe einen gespenstischen blaugrünen Schimmer aus. Diese Lichtquelle war um einiges schwächer als das Crimescope, das Mick im Haus der Yeagers benutzt hatte, doch als sie den Streifen Klebeband darunter hielt, traten erstaunliche Details zu Tage. Am Tatort gefundene Heftpflaster oder Klebstreifen können sich als wahre Fundgrube für die Ermittler erweisen. Fasern, Haare, Fingerabdrücke, sogar Hautzellen mit der DNA des Täters können daran hängen bleiben. Unter der UV-Lampe konnte Rizzoli nun Staubpartikel sowie einige kurze Haare erkennen. Und – am Rand des Klebstreifens – etwas, das wie ein sehr feiner Fransensaum aussah.
»Sehen Sie, wie regelmäßig diese Fasern am äußersten Rand sind?«, fragte Erin. »Sie ziehen sich über die ganze Länge des Klebebands, das von seinen Handgelenken abgenommen wurde, und sie finden sich auch an dem Stück, mit dem die Knöchel gefesselt waren. Man könnte beinahe denken, dass sie vom Herstellungsprozess stammen.«
»Aber das ist nicht der Fall?«
»Nein. Wenn man eine Rolle Klebeband flach hinlegt, dann heften sich Spuren der jeweiligen Unterlage an die Seite. Diese Fasern hier stammen von einem solchen Untergrund. Wir alle nehmen ständig mikroskopische Spuren aus unserer Umgebung auf und tragen sie mit uns. Und später hinterlassen wir diese Spuren wiederum an einem anderen Ort. So ist es auch unserem unbekannten Täter ergangen.«
Erin schaltete die Zimmerbeleuchtung wieder ein, und Rizzoli musste blinzeln, als das grelle Licht in ihre Augen fiel.
»Und was sind das für Fasern?«
»Ich werde es Ihnen zeigen.« Erin nahm den Objektträger mit dem langen Haar heraus und ersetzte ihn durch einen anderen. »Jetzt werfen Sie einmal einen Blick durch das zweite Okular. Ich erkläre Ihnen unterdessen, was wir sehen.«
Rizzoli blickte durch das Mikroskop und sah eine dunkle Faser, die zu einem C zusammengerollt war.
»Die stammt vom Rand des Klebebands«, sagte Erin. »Ich habe die verschiedenen Schichten des Bands mittels eines Heißluftstrahls voneinander gelöst. Diese dunkelblauen Fasern ziehen sich über die gesamte Länge. Und jetzt zeige ich Ihnen mal den Querschnitt.« Erin griff nach einem Ordner und entnahm ihm ein Foto. »So sieht das Ganze unter dem Elektronenmikroskop aus. Sehen Sie die Deltaform der Faser? Wie ein kleines Dreieck. Die Fasern werden in dieser Form produziert, um zu verhindern, dass sich zu viel Schmutz darin verfängt. Die Deltaform ist typisch für Teppichfasern.«
»Es handelt sich also um ein künstlich hergestelltes Material?«
»Richtig.«
»Was ist mit der Doppelbrechung?« Rizzoli wusste, dass ein Lichtstrahl, der durch synthetisches Gewebe fällt, oft in zwei verschiedene Polarisationsebenen aufgespaltet wird, ähnlich wie bei Kristallen. Dieses Phänomen wird Doppelbrechung genannt. Jeder Fasertyp besitzt einen charakteristischen Index, der mit einem Polarisationsmikroskop gemessen werden kann.
»Diese spezielle blaue Faser«, erwiderte Erin, »hat einen Doppelbrechungsindex von 0,063.«
»Ist das kennzeichnend für ein ganz bestimmtes Material?«
»Ja. Nylon 6.6. Ein weit verbreitetes Material für Teppiche, denn die Fasern sind schmutzabweisend, elastisch und robust. Um es noch genauer zu sagen: Der Querschnitt dieser Faser und das Ergebnis der Infrarot-Spektrografie verweisen auf ein Produkt
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