Der Meister
sicher fühlt. Nur, wenn er glaubt, dass sein Harem noch da ist und auf seinen Besuch wartet.«
Die Tür des Besprechungszimmers wurde geöffnet. Alle am Tisch drehten sich um, als Lieutenant Marquette den Kopf hereinsteckte. »Detective Rizzoli?«, sagte er. »Ich muss Sie dringend sprechen.«
»Sofort?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben. Gehen wir in mein Büro.«
Nach den Mienen der anderen Besprechungsteilnehmer zu urteilen, hatten sie alle denselben Gedanken: Jetzt knöpft sich der Chef Rizzoli vor. Und sie hatte keine Ahnung, warum. Errötend stand sie auf und verließ den Raum.
Marquette sprach kein Wort, als sie zusammen den Flur entlang zu den Büros der Mordkommission gingen. Sie betraten sein Zimmer, und er schloss die Tür. Durch die verglaste Trennwand konnte sie die Detectives von ihren Schreibtischen zu ihr herüberstarren sehen. Marquette ging auf das Fenster zu und zog mit einem Ruck das Rollo herunter.
»Möchten Sie nicht Platz nehmen, Rizzoli?«
»Nein, danke. Ich wüsste nur gerne, worum es geht.«
»Bitte.« Seine Stimme war jetzt leiser, beinahe sanft. »Setzen Sie sich doch.«
Dass er plötzlich so besorgt um sie war, machte sie nervös. Sie und Marquette waren nie so recht warm miteinander geworden. Die Mordkommission war immer noch eine Männerdomäne, und sie wusste genau, dass sie als Eindringling empfunden wurde. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ihr Puls raste.
Einen Moment lang saß er nur schweigend da, als suchte er noch nach den richtigen Worten. »Ich wollte es Ihnen sagen, bevor die anderen davon hören. Denn ich denke, dass es für Sie am schwersten sein wird. Ich bin sicher, dass es nur ein vorübergehender Zustand ist und dass die Situation binnen weniger Tage, wenn nicht binnen Stunden geklärt sein wird.«
»Welche Situation?«
»Heute früh gegen fünf Uhr ist Warren Hoyt aus der Haft entkommen.«
Jetzt begriff sie, warum er darauf bestanden hatte, dass sie sich setzte; er hatte erwartet, dass sie zusammenbrechen würde.
Aber das tat sie nicht. Sie saß vollkommen reglos da, alle Emotionen unter Verschluss, alle Nerven wie betäubt. Als sie sprach, war ihre Stimme so unheimlich ruhig, dass sie sich selbst kaum wiedererkannte.
»Wie ist es passiert?«, fragte sie.
»Während eines Krankenhausaufenthalts. Er war gestern Abend ins Fitchburg Hospital eingeliefert worden, wo ihm in einer Notoperation der Blinddarm entfernt werden sollte. Wir wissen eigentlich nicht genau, wie es passiert ist. Aber im OP …« Marquette zögerte. »Es gibt keine lebenden Zeugen.«
»Wie viele Tote?«, fragte sie. Ihre Stimme war noch immer tonlos. Immer noch die Stimme einer Fremden.
»Drei. Eine Krankenschwester und eine Anästhesistin, die ihn für die OP vorbereitet hatten. Und der Wachmann, der ihn ins Krankenhaus begleitet hatte.«
»Souza-Baranowski hat Sicherheitsstufe 6.«
»Ja.«
»Und sie haben ihn in ein ziviles Krankenhaus gehen lassen?«
»Wenn es sich um eine normale stationäre Aufnahme gehandelt hätte, dann wäre er in das Gefängniskrankenhaus Shattuck gebracht worden. Aber die Praxis im Strafvollzug von Massachusetts ist, dass bei Notfällen der Gefangene in die nächste zivile Einrichtung überführt wird. Und das nächste Krankenhaus war Fitchburg.«
»Wer hat entschieden, dass es ein Notfall war?«
»Die Gefängniskrankenschwester. Sie hat Hoyt untersucht und sich an den Gefängnisarzt gewandt. Sie waren sich beide einig, dass er sofort ärztlich versorgt werden musste.«
»Aufgrund welcher Erkenntnisse?« Ihr Ton wurde schärfer; die ersten Emotionen begannen mitzuschwingen.
»Die Symptome waren eindeutig. Leibschmerzen …«
»Er hat eine medizinische Ausbildung. Er wusste genau, was er ihnen erzählen musste.«
»Es gab auch abnormale Laborergebnisse.«
»Was waren das für Tests?«
»Irgendetwas mit einem erhöhten Anteil weißer Blutkörperchen.«
»Wussten sie denn nicht, mit wem sie es zu tun hatten? Hatten sie denn gar keine Ahnung?«
»Man kann doch bei einer Blutprobe nicht simulieren.«
»Er könnte es. Er hat in einem Krankenhaus gearbeitet. Er weiß, wie man Labortests manipulieren kann.«
»Detective …«
»Verdammt noch mal, er war MTA und hat mit Blut gearbeitet! «Ihr schriller Ton erschreckte sie selbst. Sie starrte Marquette an, schockiert über ihren Gefühlsausbruch. Und überwältigt von den Emotionen, die nun endlich doch in ihr aufwallten. Wut – und Hilflosigkeit.
Und Angst. All die Monate hatte sie die Angst
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