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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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unterdrückt, weil sie wusste, dass es irrational war, sich vor Warren Hoyt zu fürchten. Er saß hinter Gittern; er hatte keine Möglichkeit, an sie heranzukommen, ihr etwas anzutun. Die Albträume waren nur Nachbeben gewesen, langsam verhallende Echos eines Schreckens, die, so hoffte sie, irgendwann ganz verstummen würden. Aber jetzt hatte die Angst plötzlich einen ganz realen Hintergrund – und sie hatte sie bereits fest im Griff.
    Abrupt stand sie auf und wandte sich zum Gehen.
    »Detective Rizzoli!«
    Sie blieb in der Tür stehen.
    »Wo wollen Sie denn hin?«
    »Ich denke, Sie wissen, wohin ich gehen muss.«
    »Die Kollegen in Fitchburg und die Staatspolizei haben die Sache unter Kontrolle.«
    »Wirklich? Für sie ist er vielleicht nur irgendein Sträfling auf der Flucht. Sie rechnen wohl damit, dass er die gleichen Fehler macht wie all die anderen. Aber das wird er nicht tun. Er wird ihnen durch die Lappen gehen.«
    »Sie sollten die Kollegen nicht unterschätzen.«
    »Sie sind es, die Hoyt unterschätzen. Sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben«, sagte Rizzoli.
    Aber ich weiß es. Ich weiß es ganz genau.
    Der Asphalt des Parkplatzes glühte unter der gleißenden Sonne, und der Wind, der von der Straße her wehte, war schwül und stickig. Als sie in ihren Wagen stieg, war ihre Bluse bereits völlig verschwitzt. Hoyt würde diese Hitze lieben, dachte sie. Er blühte unter diesen Bedingungen auf wie eine Eidechse auf dem kochend heißen Wüstensand. Und wie jedes Reptil verstand er es, sich bei Gefahr blitzschnell in Sicherheit zu bringen.
    Sie werden ihn nicht finden.
    Während der Fahrt nach Fitchburg dachte sie an den Chirurgen, der jetzt wieder auf freiem Fuß war. Sie malte sich aus, wie er durch die Straßen der Stadt streifte, ein Räuber, der wieder auf die Jagd ging. Sie fragte sich, ob sie noch die Kraft hatte, sich ihm entgegenzustellen. Ob sie, indem sie ihn dieses eine Mal besiegt hatte, nicht ihren gesamten Vorrat an Mut erschöpft hatte. Sie hielt sich keineswegs für einen Feigling; sie war nie einer Herausforderung aus dem Weg gegangen und hatte sich stets unerschrocken in jede Auseinandersetzung gestürzt. Aber bei dem Gedanken, sich mit Warren Hoyt anzulegen, durchfuhr es sie eiskalt.
    Ich habe einmal gegen ihn gekämpft, und ich hätte es beinahe nicht überlebt. Ich weiß nicht, ob ich es ein zweites Mal fertig bringe. Ob ich das Monster in seinen Käfig zurückdrängen kann.
     
    Die Absperrung war nicht bewacht. Rizzoli blieb im Krankenhausflur stehen und blickte sich suchend um, konnte jedoch keinen uniformierten Beamten sehen. Nur ein paar Krankenschwestern standen in der Nähe; zwei von ihnen hielten einander Trost suchend im Arm, die übrigen standen dicht gedrängt und unterhielten sich in gedämpftem Ton, die Gesichter aschfahl vor Schock.
    Sie schlüpfte unter dem locker gespannten gelben Band hindurch, und niemand stellte sich ihr in den Weg, als sie durch eine Doppeltür, die sich automatisch mit einem zischenden Geräusch öffnete, den OP-Bereich betrat. Auf dem Boden erblickte sie blutige Schlieren und Fußabdrücke wie von wilden Tanzschritten. Ein Spurensicherungsexperte packte schon seine Ausrüstung ein. An diesem Tatort gab es keine heißen Spuren mehr, alles war bereits abgesucht und zertrampelt und wartete nur noch auf die Freigabe zur Reinigung.
    Aber obwohl die Beweissicherung abgeschlossen war und die Spuren bereits größtenteils verwischt waren, konnte Rizzoli an ihnen immer noch ablesen, was hier passiert war, denn es stand mit Blut an die Wände geschrieben. Sie sah die eingetrockneten Spritzer arteriellen Bluts aus der durchtrennten Schlagader eines Opfers. Sie zogen sich in einer wellenförmigen Linie über die Wand und die große abwischbare Tafel mit dem OP-Plan für den heutigen Tag. Hier waren die Nummern der OP-Säle aufgelistet, die Namen der Patienten und der Operateure sowie die Art des Eingriffs – ein randvoller Tagesplan. Sie fragte sich, was wohl aus den Patienten würde, deren Operationstermine kurzerhand gestrichen worden waren, weil der OP zum Schauplatz eines Verbrechens geworden war. Welche Konsequenzen hatte die Verschiebung einer Cholezystektomie – was immer das sein mochte? Der volle Plan erklärte, weshalb die Spurensicherung so schnell abgewickelt worden war. Man musste an die Bedürfnisse der Lebenden denken. Man konnte einen voll ausgebuchten OP wie den des Krankenhauses von Fitchburg nicht einfach auf unbestimmte Zeit

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